Tagebücher 1909-1923
verteilte. Erinnerung an eine Kirche in Verona, wo ich, ganz verlassen, nur unter dem leichten Zwang der Pflicht eines Vergnügungsreisenden und unter dem schweren Zwang eines in Nutzlosigkeit vergehenden Menschen widerwillig eintrat, einen überlebensgroßen Zwerg sah, der sich unter dem Weihbecken krümmte, ein wenig umhergieng, mich niedersetzte und ebenso widerwillig hinausgieng als sei draußen wieder eine gleiche Kirche Tor an Tor angebaut.
Letzthin die Judenabreise auf dem Staatsbahnhof. Die 2
Männer die einen Sack trugen. Der Vater der seine Habseligkeiten seinen vielen Kindern bis zum Kleinsten aufladet, um schneller auf den Perron zu kommen. Die auf dem Koffer mit einem Säugling sitzende starke gesunde schon formlose junge Frau, welche Bekannte in lebhaftem Gespräch umstehn.
5. (November 1915) Aufregungszustand nachmittag. Begann mit der Überlegung ob und wieviel Kriegsanleihe ich mir kaufen sollte. Gieng zweimal zum Geschäft hin, um den nötigen Auftrag zu geben und zweimal zurück, ohne eingetreten zu sein.
Berechnete fieberhaft die Zinsen. Bat dann die Mutter 1000 K-Anleihe zu kaufen, erhöhte aber den Betrag auf 2000 K. Es zeigte sich dabei, daß ich von einer etwa 3000 K betragenden Einlage, die mir gehörte gar nicht gewußt hatte und daß es mich fast gar nicht berührte als ich davon erfuhr. Nur die Zweifel wegen der Krieganleihe lage n mir im Kopf und hörten nun etwa 1/2 Stunde lang auf einem Spaziergang durch die belebtesten Gassen nicht auf. Ich fühlte mich unmittelbar am Krieg beteiligt, erwog, allerdings meinen Kenntnissen entsprechend, ganz allgemein die finanziellen Aussichten, steigerte und verringerte die Zinsen, die mir einmal zur Verfügung stehen würden u. s. f.
Allmäh lich verwandelte sich aber diese Aufregung, die Gedanken wurden auf das Schreiben hingelenkt, ich fühlte mich
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dazu fähig, wollte nichts anderes als die Möglichkeit des Schreibens haben, überlegte, welche Nächte ich in der nächsten Zeit dafür bestimmen könnte, lief unter Herzschmerzen über die steinerne Brücke, fühlte das schon so oft erfahrene Unglück des verzehrenden Feuers das nicht ausbrechen darf, erfand um mich auszudrücken und zu beruhigen den Spruch "Freundchen ergieße Dich", sang ihn unaufhörlich nach einer besondern Melodie und begleitete den Gesang, indem ich ein Taschentuch in der Tasche wie einen Dudelsack immer wieder drückte und losließ.
6. (November 1915) Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem Schützengraben und in ihm.
Bei der Mutter von Oskar Pollak. Guter Eindruck seiner Schwester. Gibt es brigens jemanden vor dem ich mich nicht beuge? Was etwa Grünberg betrifft, der meiner Meinung nach ein sehr bedeutender Mensch ist und aus mir unzugänglichen Gründen fast allgemein unterschätzt wird: Stellte man mich etwa vor die Wahl, daß einer von uns beiden gleich untergehn müsse (rücksichtlich seiner Person ist es sehr wahrscheinlich, denn er soll eine weit fortgeschrittene Tuberkulose haben) daß es aber von meiner Entscheidung abhänge, wer das sein solle, so würde ich bis an den äußersten Rand der teoretischen Fragestellung die Frage lächerlich finden, da selbstverständlich der ungleich wertvollere Grünberg erhalten werden müsse. Auch Grünberg würde mir zustimmen. In den letzten
unkontrollierbaren Augenblicken allerdings würde ich wie jeder andere schon viel früher Beweise zu meinen Gunsten erfinden, Beweise, die mich sonst infolge ihrer Rohheit, Kahlheit, Falschheit zum Erbrechen gereizt hätten. Diese letzten Augenblicke ereignen sich allerdings auch jetzt, wo mir niemand eine Wahl aufdrängt, es sind jene, wo ich mich unter Abhaltung aller ablenkenden, äußern Einflüsse zu prüfen suche.
"Schweigend sitzen die "Schwarzen" um das Feuer. Auf Ihren düstern Schwärmergesichtern zuckt der Flammenschein. "
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19 XI 15
Nutzlos verbrachte Tage, sich im Warten verbrauchende Kräfte und trotz allem Nichtstun die wehenden und bohrenden Schmerzen im Kopf.
Brief von Werfel. Antwort.
Bei Frau Mirsky-Tauber. Wehrlosigkeit gegenüber allem.
Boshafte Besprechung bei Max. Ekel darüber am nächsten Morgen.
Mit Frl. Fanni Reiß und Esther.
In der Alt-Neu-Synagoge beim Mischnavortrag.Mit Dr.
Jeiteles nachhause. Großes Interesse an einzelnen Streitfragen.
Wehleidigkeit gegenüber der Kälte, gegenüber allem. Jetzt 1’2 10 abend schlägt in der Nebenwohnung jemand einen Nagel in die gemeinsame Wand.
21 XI 15 Vollständige Nutzlosigkeit.
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