Tagebücher 1909-1923
sah flüchtig in das Innere des Koupee, dessen warme Luft der Mann mit seinem Rauchen verderben wird. Wir sprachen von ihren Kindern denen zu Liebe sie wegfahren; sie haben 4 Kinder, darunter 3 Jungen, der älteste ist 9 Jahre alt, sie haben sie schon 18 Monate nicht gesehn. Als ein Herr in der Nähe rasch einstieg, schien der Zug wegfahren zu wollen, wir nahmen in Eile Abschied, reichten einander die Hände, ich hob den Hut und hielt ihn dann an die Brust, wir traten zurück, wie man es bei der Abfahrt von Zügen tut, womit man zeigen will, daß alles vorüber ist und man sich damit abgefunden hat. Der Zug fuhr aber noch nicht, wir traten wieder heran, ich war ganz froh darüber, sie erkundigte sich nach meinen Schwestern. Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. Klug bereitete ihr Taschentuch zum Winken vor, ich möchte ihr schreiben, rief sie noch, ob ich ihre Adresse wüßte, sie war schon zu weit, als daß ich ihr mit Worten hätte antworten können, ich zeigte auf Löwy von dem ich die Adresse erfahren könnte, das ist gut, nickte sie mir und ihm rasch zu und ließ das Taschentuch flattern, ich hob den Hut, zuerst ungeschickt, dann je weiter sie war, desto freier. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze
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Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann. Im Halbschlaf am gleichen Abend erschien mir Frau Klug unnatürlich klein fast ohne Beine und rang die Hände mit verzerrtem Gesicht, als ob ihr ein großes Unglück geschehen wäre.
Heute nachmittag kam der Schmerz über meine Verlassenheit, so durchdringend und straff in mich, daß ich merkte, auf diese Weise verbrauche sich die Kraft, die ich durch dieses Schreiben gewinne und die ich zu diesem Ziel wahrhaftig nicht bestimmt habe
Sobald Hr. Klug in eine neue Stadt kommt merkt man wie seine und seiner Frau Schmucksachen im Versatzamt verschwinden. Gegen die Abfahrt zu löst er sie langsam wieder ein
Lieblingssatz der Frau des Philosophen Mendelssohn: Wie mies ist mir vor tout l’univers!
Einer der wichtigsten Eindrücke beim Abschied der Fr. Klug war, daß ich immer glauben mußte, als einfache bürgerliche Frau halte sie sich mit Gewalt unter dem N iveau ihrer wahren menschlichen Bestimmung und bedürfe nur eines Sprunges, eines Aufreißens der Tür, eines aufgedrehten Lichtes, um Schauspielerin zu sein und mich zu unterwerfen. Sie stand ja auch wirklich oben und ich unten wie im Teater. – Sie hat mit 16 Jahren geheiratet, ist 26 Jahre alt.
2 XI 11 Heute früh zum erstenmal seit langer Zeit wieder die Freude an der Vorstellung eines in meinem Herzen gedrehten Messers.
In den Zeitungen, im Gespräch, im Bureau verführt oft das Temperament der Sprache, dann die aus einer gegenwärtigen Schwäche geborene Hoffnung auf plötzliche desto stärkere Erleuchtung schon im nächsten Augenblick, oder starkes Selbstvertrauen ganz allein oder bloße Nachlässigkeit oder ein großer gegenwärtiger Eindruck den man um jeden Preis auf die
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Zukunft abwälzen will oder die Meinung, daß gegenwärtige wahre Begeisterung jede Zerfahrenheit in der Zukunft rechtfertige oder die Freude an Sätzen, die in der Mitte durch ein oder zwei Stöße gehoben sind und den Mund allmählich zu seiner ganzen Größe öffnen, wenn sie ihn auch viel zu rasch und gewunden sich schließen lassen oder die Spur der Möglichkeit eines entschiedenen auf Klarheit angelegten Urteils oder das Bestreben der eigentlich beendeten Rede noch weiterhin Fluß zu geben oder das Verlange n, das Thema in Eile zu verlassen wenn es sein muß auf dem Bauch oder Verzweiflung, die einen Ausweg für ihren schweren Athem sucht, oder die Sehnsucht nach einem Licht ohne Schatten – alle diese können zu Sätzen verführen, wie: "Das Buch das ich eben beendet habe, ist das schönste, das ich bisher gelesen habe oder ist so schön, wie ich noch keines gelesen habe. "
Um zu beweisen, daß alles was ich über sie schreibe und denke falsch ist, sind die Schauspieler (abgesehen von Hr. und Fr. Klug) wieder hier geblieben, wie mir Löwy, den ich gestern abend getroffen habe, erzählte; wer weiß ob sie nicht aus dem gleichen Grunde heute wieder weggefahren sind, denn Löwy hat sich im Geschäft nicht gemeldet, trotzdem er es versprochen hat.
Es gieng gestern noch der Sohn des Cafehauswirtes Hermann –
3 XI 11 um zu beweisen, daß beides falsch war, was ich aufgeschrieben hatte,
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