Tagebücher 1909-1923
gegenwärtiger Zuhälter schrie die kleine Tschissik nieder, als diese in der Aufregung ihres Mitgefühls "beim wilden Menschen" irgendetwas den Schauspielern gereicht haben wollte und als ich vorgestern Löwy zum Kaffeehaus zurückbegleitete, nachdem er mir im Kaffee City den ersten Akt von "Elieser ben Schevia" von Gordon vorgelesen hatte, rief ihm jener Kerl zu (er schielt und hat zwischen der gekrümmten spitzigen Nase und dem Mund eine Vertiefung, aus welcher heraus ein kleiner Schnurrbart sich sträubt): "Komm schon, Idiot. (Anspielung auf die Rolle im
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wilden Menschen) Man wartet. Ein Besuch ist heute da wie Du ihn wirklich nicht verdienst. Sogar ein Freiwilliger von der Artillerie ist da, schau hier." Und er zeigt auf eine der verhängten Kaffeehausscheiben, hinter der jener Freiwillige angeblich sitzen soll. Löwy fährt sich mit der Hand über die Stirn: "Von Elieser ben Schevia zu diesem. "
Der Anblick von Stiegen ergreift mich heute so. Schon früh und mehrere Male seitdem freute ich mich an dem von meinem Fenster aus sichtbaren dreieckigen Ausschnitt des steinernen Geländers jener Treppe die rechts von der Cechbrücke zum Quaiplateau hinunter führt. Sehr geneigt, als gebe sie nur eine rasche Andeutung. Und jetzt sehe ich drüben über dem Fluß eine Leitertreppe auf der Böschung die zum Wasser führt. Sie war seit jeher dort, ist aber nur im Herbst und Winter durch Wegnahme, der sonst vor ihr liegenden Schwimmschule enthüllt und liegt dort im dunklen Gras unter den braunen Bäumen im Spiel der Perspektive.
Löwy: Vier Freunde wurden im Alter große Talmudgelehrte.
Jeder aber hatte ein besonderes Schicksal. Einer wurde irrsinnig, einer starb, rabbi Elieser wurde mit 40 Jahren Freidenker und nur der älteste von ihnen, Akiba, der erst mit 40 Jahren zu studieren angefangen hatte, kam zur vollständigen Erkenntnis.
Der Schüler Eliesers war reb Maier, ein frommer Mann, dessen Frömmigkeit so groß war, daß ihm der Unterricht des Freidenkers nicht schadete. Er aß, wie er sagte den Nußkern, die Schale warf er fort. Am Samstag machte einmal Elieser einen Spazierritt, reb Maier folgte zu fuß, den Talmud in der Hand, allerdings nur 2000 Schritt denn weiter darf man am Samstag nicht gehn. Und hier entstand aus dem Spaziergang eine symbolische Rede und Gegenrede. Komm zurück zu deinem Volke sagte reb M. Reb El. weigerte sich mit einem Wortspiel.
30. IX (Oktober 1911) Dieses Verlangen, das ich fast immer habe, wenn ich einmal meinen Magen gesund fühle,
Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in mir
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zu häufen. Besonders vor Selchereien befriedige ich dieses Verlangen. Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtlos wie eine Maschine. Die Verzweiflung, welche diese Tat selbst in der Vorstellung zur sofortige n Folge hat, steigert meine Eile.
Die langen Schwarten von Rippenfleisch stoße ich ungebissen in den Mund und ziehe sie dann von hinten den Magen und die Därme durchreißend wieder heraus. Schmutzige Greißlerläden esse ich vollständig leer. Fülle mich mit Häringen, Gurken und allen schlechten alten scharfen Speisen an. Bonbons werden aus ihren Blechtöpfen wie Hagel in mich geschüttet. Ich genieße dadurch nicht nur meinen gesunden Zustand, sondern auch ein Leiden, das ohne Schmerzen ist und gleich vorbeigehn kann.
Es ist meine alte Gewohnheit reine Eindrücke, ob sie schmerzlich oder freudig sind, wenn sie nur ihre höchste Reinheit erreicht haben, nicht sich wohltätig in mein ganzes Wesen verlaufen zu lassen, sondern sie durch neue
unvorhergesehene, schwache Eindrücke zu trüben und zu verjagen. Es ist nicht böse Absicht, mir selbst zu schaden, sondern Schwäche im Ertragen der Reinheit jenes Eindrucks, die aber nicht eingestanden wird, sondern lieber unter innerlicher Stille durch scheinbar willkürliches Hervorrufen des neuen Eindrucks sich zu helfen sucht, statt daß sie, was allein richtig wäre, sich offenbarte und andere Kräfte zu ihrer Unterstützung riefe. So war ich z. B. Samstag abend nach dem Anhören der guten Novelle des Fräul. T., die doch Max mehr gehört, ihm zumindest in größerem Umfange mit größerem Anhang gehört, als eine eigene, dann nach dem Anhören des ausgezeichneten Stückes "Conkurrenz" von Baum, in welchem dramatische Kraft genau so ununterbrochen bei der Arbeit und in der Wirkung
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