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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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keinen Anlaß gegeben hat und der wenigstens wegen Löwy
    unverhältnismäßig groß ist, im Vergleiche zu dem, was ich als Äußerung meines Vaters niedergeschrieben habe und der sich daran noch steigert, daß ich an das eigentlich Böse im gestrigen Benehmen des Vaters mich nicht erinnern kann.
    1 XI 11 Heute Geschichte des Judentums von Grätz gierig und glücklich zu lesen angefangen. Weil mein Verlangen danach das Lesen weit überholt hatte, war es mir zuerst fremder als ich dachte und ich mußte hie und da einhalten, um durch Ruhe mein Judentum sich sammeln zu lassen. Gegen Schluß ergriff mich aber schon die Unvollkommenheit der ersten Ansiedlungen im neu eroberten Kanaan und die treue Überlieferung der Unvollkommenheit der Volksmänner (Josuas, der Richter, Elis)
    Gestern abend Abschied von Frau Klug. Wir (ich u. Löwy) liefen den Zug entlang und sahen Frau Klug hinter einem geschlossenen Fenster des letzten Waggons im Dunkel herausschauen. Rasch streckte sie den Arm gegen uns noch drinnen im Coupee, stand auf, öffnete das Fenster, in dem sie einen Augenblick breit mit dem offenen Überkleid stand, bis ihr gegenüber der dunkle Herr Klug sich erhob, der den Mund nur groß und verbittert öffnen und ihn nur knapp wie für immer schließen kann. Ich habe Hr. Klug in den 15 Minuten nur wenig angesprochen und vielleicht nur zwei Augenblicke angeschaut, sonst konnte ich unter schwachem, unterbrochenem Gespräch die Augen von Frau Klug nicht abwenden. Sie war vollständig von meiner Gegenwart beherrscht, aber mehr in ihrer Einbildung als wirklich. Wenn sie sich an Löwy mit der wiederkehrenden
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    Einleitung "Du, Löwy" wendete, sprach sie für mich, wenn sie sich an ihrem Mann drückte, der sie manchmal nur mit ihrer rechten Schulter beim Fenster ließ und ihr Kleid und den aufgebauschten Überzieher preßte, strengte sie sich an mir damit ein leeres Zeichen zu geben. Der erste Eindruck den ich bei den Vorstellungen hatte, daß ich ihr nicht besonders angenehm war, wird wohl der richtige gewesen sein, mich forderte sie selten zum Mitsingen auf, wenn so ohne Laune, wenn sie mich etwas fragte antwortete ich leider falsch ("verstehn Sie das?" ich sagte
    "ja" sie wollte aber "nein" um zu antworten "ich auch nicht") ihre Ansichtskarten bot sie mir zum zweitenmal nicht an, ich bevorzugte Frau Tschissik, der ich zum Schaden der Fr. Klug Blumen geben wollte. Zu dieser Abneigung aber kam die Achtung vor meinem Doktorat, die sich durch mein kindliches Aussehn nicht abhalten ließ, ja sich eher dadurch vergrößerte.
    Diese Achtung war so groß, daß sie aus ihrer zwar häufigen, aber gar nicht besonders betonten Ansprache "Wissen Sie Herr Doktor" derartig klang, daß ich halb unbewußt bedauerte, sie viel zu wenig zu verdienen und mich fragte, ob ich nicht Anspruch hätte, von jedem eine genau gleiche Ansprache zu bekommen. Da ich aber von ihr als Mensch so geachtet war, war ich es als Zuhörer erst recht. Ich glänzte, wenn sie sang, ich lachte und sah sie an, die ganze Zeit während sie auf der Bühne war, ich sang die Melodien mit, später die Worte, ich dankte ihr nach einigen Vorstellungen; dafür konnte sie mich natürlich wieder gut leiden. Sprach sie mich aber aus diesem Gefühl an, war ich verlegen, hatte nichts zu sagen und machte sie verlegen, so daß sie sicher mit dem Herzen zu ihrer ersten Abneigung zurückkehrte und bei ihr blieb. Desto mehr mußte sie sich anstrengen mich als Zuhörer zu belohnen und sie tat es gern, da sie eine eitle Schauspielerin und eine gutmütige Frau ist.
    Besonders wenn sie dort oben im Coupeefenster schwieg, sah sie mich mit einem vor Verlegenheit und List verzücktem Mund und mit blinzelnden Augen an, die auf den vom Mund
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    herkommenden Falten schwammen. Sie mußte glauben, von mir geliebt zu sein, wie es auch wahr gewesen ist, und gab mir mit diesen Blicken die einzige Erfüllung, die sie als erfahrene aber junge Frau, gute Ehefrau und Mutter, einem Doktor ihrer Einbildung geben konnte. Diese Blicke waren so dringend und von Wendungen, wie "es gab hier so liebe Gäste, besonders einzelne" unterstützt, daß ich mich wehrte und das waren die Augenblicke, in denen ich ihren Mann ansah. Ich hatte wenn ich beide verglich eine grundlose Verwunderung darüber, daß sie gemeinsam von uns wegfahren sollten und doch sich nur um uns bekümmerten und keinen Blick für einander hatten. Löwy fragte, ob sie gute Plätze hätten; ja wenn es so leer bleibt antwortete Fr. Klug und

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