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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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sie nachtmahlen also; dann wird in ihrem Zimmer wieder Licht, sie putzen sich also die Zähne; dann wird ausgelöscht, sie sind also schon auf der Treppe, aber dann wird wieder angezündet –
    25. XII (1911) Was ich durch Löwy von der gegenwärtigen jüdischen Litteratur in Warschau und was ich durch teilweisen eigenen Einblick von der gegenwärtigen tschechischen Litteratur erkenne, deut et daraufhin, daß viele Vorteile der litterarischen Arbeit, die Bewegung der Geister, das einheitliche Zusammenhalten des im äußern Leben oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewußtseins der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält, dieses
    Tagebuchführen einer Nation, das etwas ganz anderes ist als
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    Geschichtsschreibung und als Folge dessen, eine schnellere und doch immer vielseitig überprüfte Entwicklung, die detaillierte Vergeistichung des großflächigen öffentlichen Lebens, die Bindung unzufriedener Elemente, die hier, wo Schaden nur durch Lässigkeit entstehen kann, sofort nützen, die durch das Getriebe der Zeitschriften sich bildende, immer auf das Ganze angewiesene Gliederung des Volkes, die Einschränkung der Aufmerksamkeit der Nation auf ihren eigenen Kreis und Aufnahme des Fremden nur in der Spiegelung, das Entstehen der Achtung vor litterarisch tätigen Personen,
    die
    vorübergehende aber nachwirkende Erweckung höhe ren Strebens unter den Heranwachsenden, die Übernahme litterarischer Vorkommnisse in die politischen Sorgen, die Veredlung und Besprechungsmöglichkeit des Gegensatzes zwischen Vätern und Söhnen, die Darbietung der nationalen Fehler in einer zwar besonders
    schmerzlichen, aber
    verzeihungswürdigen und befreienden Weise, das Entstehen eines lebhaften und deshalb selbstbewußten Buchhandels und der Gier nach Büchern – alle diese Wirkungen können schon durch eine Litteratur hervorgebracht werden, die sich in einer tatsächlich zwar nicht ungewöhnlichen Breite entwickelt, aber infolge des Mangels bedeutender Talente diesen Anschein hat.
    Die Lebhaftigkeit einer solchen Litteratur ist sogar größer als die einer talentreichen, denn da es hier keine Schriftsteller giebt, vor dessen Begabung wenigstens die Mehrzahl der Zweifler zu schweigen hätte, bekommt der litterarische Streit in größtem Ausmaß eine wirkliche Berechtigung. Die von keiner Begabung durchbrochene Litteratur zeigt deshalb auch keine Lücken, durch die sich Gleichgültige drücken könnten. Der Anspruch der Litteratur auf Aufmerksamkeit wird dadurch zwingender. Die Selbständigkeit des einzelnen Schriftstellers, natürlich nur innerhalb der nationalen Grenzen, wird besser gewahrt. Der Mangel unwiderstehlicher natio naler Vorbilder hält völlig Unfähige von der Litteratur ab. Aber selbst schwache
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    Fähigkeiten genügen nicht, um sich von den undeutlichen Charakterzeichen der
    eben herrschenden Schriftsteller
    beeinflussen zu lassen oder die Ergebnisse fremder Litteraturen einzuführen oder die schon eingeführte fremde Litteratur nachzuahmen, was man schon daraus erkennen kann, daß z. B.
    innerhalb einer an großen Begabungen reichen Litteratur wie der deutschen die schlechtesten Schriftsteller sich mit ihrer Nachahmung an das Inland halten. Besonders wirkungsvoll zeigt sich die in den obigen Richtungen schöpferische und beglückende Kraft einer im einzelnen schlechten Litteratur, wenn damit begonnen
    wird, verstorbene Schriftsteller
    litteraturgeschichtlich zu registrieren. Ihre
    unleugbaren
    damaligen und gegenwärtigen Wirkungen werden etwas so tatsächliches, daß es mit ihren Dichtungen vertauscht werden kann. Man spricht von den letzteren und meint die ersteren, ja man liest sogar die letzteren und sieht bloß die erstern. Da sich jene Wirkungen aber nicht vergessen lassen und die Dichtungen selbständig die Erinnerung nicht beeinflussen, gibt es auch kein Vergessen und kein Wiedererinnern. Die Litteraturgeschichte bietet einen unveränderlichen vertrauenswürdigen Block dar, dem der Tagesgeschmack nur wenig schaden kann. Das Gedächtnis einer kleinen Nation ist nicht kleiner als das Gedächtnis einer großen, es verarbeitet daher den vorhandenen Stoff gründlicher.
    Es werden zwar weniger
    Litteraturgeschichtskundige beschäftigt, aber die Litteratur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes und darum ist sie wenn auch nicht rein so doch sicher aufgehoben. Denn

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