Tagebücher 1909-1923
die Anforderungen, die das Nationalbewußtsein innerhalb eines kleinen Volkes an den Einzelnen stellt, bringen es mit sich, daß jeder immer bereit sein muß den auf ihn entfallenden Teil der Litteratur zu kennen, zu tragen zu verfechten und jedenfalls zu verfechten, wenn er ihn auch nicht kennt und trägt.
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Beschneidung in Rußland. In der ganzen Wohnung, wo sich nur Türen finden, werden handtellergroße mit kaballistischen Zeichen bedruckte Tafeln aufgehängt, um die Mutter in der Zeit zwischen der Geburt und der Beschneidung vor bösen Geistern zu schützen, die ihr und dem Kind um diese Zeit besonders gefährlich werden können, vielleicht weil ihr der Körper so sehr geöffnet wurde und also allem Bösen bequemen Eingang bietet und weil auch das Kind solange es nicht in den Bund aufgenommen ist, dem Bösen keinen Widerstand leisten kann.
Deshalb wird auch, damit die Mutter keinen Augenblick allein bleibe, eine Wärterin aufgenommen. Zur Abwehr der bösen Geister dient es auch daß während 7 Tagen nach der Geburt mit Ausnahme des Freitag 10-15 Kinder, immer andere, gegen Abend unter Führung des Belfer (Hilfslehrer) zum Bett der Mutter vorgelassen werden dort das Schema Israel aufsagen und dann mit Süßigkeiten beschenkt werden. Diese unschuldigen 5-8
Jahre alten Kinder sollen die bösen Geister, die gegen Abend am meisten drängen, besonders wirksam abhalten. Freitag wird ein besonderes Fest abgehalten, wie überhaupt während dieser Woche mehrere Gastmähler einander folgen. Vor dem Tag der Beschneidung werden die Bösen am wildesten, deshalb ist die letzte Nacht eine Wachnacht und man verbringt sie bis gegen Morgen wachend bei der Mutter. Die Beschneidung erfolgt meist in Gegenwart von oft über 100 Verwandten und Freunden.
Der angesehenste der Anwesenden darf das Kind tragen. Der Beschneider, der sein Amt ohne Bezahlung ausübt, ist meist ein Säufer, da er beschäftigt, wie er ist, an den verschiedenen Festessen sich nicht beteiligen kann und daher nur etwas Schnaps herunterschüttet. Alle diese Beschneider haben deshalb rote Nasen und riechen aus dem Mund. Es ist daher auch nicht appetitlich, wenn sie, nachdem der Schnitt aus geführt ist, mit diesem Mund das blutige Glied aussaugen wie es
vorgeschrieben ist. Das Glied wird dann mit Holzmehl bedeckt und ist in 3 Tagen beiläufig heil.
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Den Juden und natürlich besonders denen in Rußland scheint nicht so sehr ein strenges Familienleben gemeinsam und bezeichnend zu sein, denn Familienleben findet sich schließlich auch bei Christen und störend für das Familienleben der Juden ist doch, daß die Frau vom Talmudstudium ausgeschlossen ist, so daß die Frauen, wenn sich der Mann mit Gästen über gelehrte Talmuddinge also den Mittelpunkt seines Lebens unterhalten will, sich ins Nebenzimmer zurückziehn wenn nicht zurückziehn müssen, so ist es für sie noch eigentümlicher, daß sie so oft bei jeder möglichen Gelegenheit zusammenkommen, sei es zum Beten, oder zum Studieren oder zur Besprechung göttlicher Dinge oder zu meist religiös begründeten Festmahlzeiten, bei denen nur sehr mäßig Alkohol getrunken wird. Sie fliehen förmlich zu einander.
Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück. Wenn sich auch die Prosa in der Zwischenzeit öfters von ihm entfernt, so ist sie doch schließlich, wie gerade gegenwärtig mit verstärkter Sehnsucht zu ihm zurückgekehrt und hat sich selbst alte bei Goethe
vorfindliche sonst aber mit ihm nicht
zusammenhängende Wendungen angeeignet, um sich an dem vervollständigten Anblick ihrer grenzenlosen Abhängigkeit zu erfreuen.
Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die 6 Jahre alt war als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte. Sie erinnert sich auch an die vielen die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis. Die Mutter meiner Mutter starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die GroßMutter trübsinnig, weigerte
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sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter gieng sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre
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