Tagebücher der Henker von Paris
trug ihn auf das Schafott, denn er konnte sich nicht entschließen, seine nackten Füße auf die Erde zu setzen; selbst in einem solchen Augenblick bebte noch diese entnervte Natur vor einem leichten körperlichen Leiden zurück. Als man ihn auf das Brett band, war er so völlig gelähmt, daß sein Körper nur einer trägen Masse glich. Es war um halb acht Uhr, als Benoîts Kopf unter dem Messer fiel.
Mein Vater sagte mir, daß seit der Hinrichtung der Frau Dubarry kein Beispiel einer ähnlichen Schwäche auf dem Schafott gesehen worden.
»Erkenne daraus«, fügte er hinzu, »die Unwirksamkeit der Todesstrafe. Wir haben jedenfalls einen Mann vor uns gehabt, der den Tod am meisten fürchtete. Wohl! Dieser Mann war noch nicht einundzwanzig Jahre alt, als er schon zwei Mordtaten, und zwar zuerst den Mord an seiner Mutter, begangen hatte. Da muß man doch wohl eingestehen, daß das Strafgesetz ein schlechtes Schreckbild für ihn war.«
Ich pflichtete nur zu sehr dieser Ansicht bei; mein Vater zuckte die Achseln und fuhr fort:
»Die Furcht vor dem Tode ist eine rein körperliche Empfindung, welche mit dem Trieb der Lebenserhaltung zusammenhängt. Sobald der Mensch krank wird oder sich in einer sichtlichen Gefahr befindet, wird er den Tod fürchten; aber hoffe nicht, ihn durch die Aussicht auf einen fernen, Ungewissen, von tausend verschiedenen Umständen abhängigen Tod zu erschrecken und zu zügeln. Ist dieser Mann verderbten Herzens, so wird die Versuchung zum Verbrechen immer den Sieg über die Furcht vor einer zufälligen Gefahr, die sich vielleicht vermeiden läßt, davontragen.«
So endigte diese traurige Angelegenheit, in welcher wir ein Beweismittel mehr gegen das barbarische Gesetz fanden, zu dessen Vollstreckern wir berufen waren.
Lacenaire, Avril
Zum Beginn des Jahres 1836 erhielt das Schafott ein gräßliches Neujahrsgeschenk mit der Doppelhinrichtung von Lacenaire und Avril. Namentlich dem ersteren dieser beiden Verbrecher gebührt der Beiname eines »Löwen des Verbrechens«. In der Tat ist niemals ein Mörder auf dem Wege vom Gefängnis zum Gerichtssaal und zum Schafott von neugierigeren und begeisterteren Blicken begleitet, ich möchte sagen, mit ähnlichen Huldigungen gefeiert worden.
Den Diebstahl als Zweck, den Mord als Mittel – nach diesem System hatte Lacenaire seine Verbrechen in großem Maßstabe auszuführen gedacht. Mit reichen Einnahmen beladene Kassendiener zu ermorden und zu berauben unternahm er mit seinem Spießgesellen mehrere Versuche, die glücklicherweise mißlangen, bis eines Tages Avril ergriffen ward und bald darauf auch Lacenaire in die Hände der Justiz geriet.
Es läßt sich kaum sagen, welche Roheit und Kühnheit dieser Mensch bewies. Anstatt zuzugeben, daß schlechte Leidenschaften ihn zu den Verbrechen, die er offen eingestand, getrieben hätten, wollte er dieselben auf bestimmte Grundsätze zurückführen und bestand darauf, indem er mit den Theorien eines verworfenen Materialismus prahlte, sein Betragen mit Hilfe von Lehrsätzen zu erklären, deren Ausdruck allein schon eine schimpfliche Beleidigung der Sittlichkeit und des gesunden Menschenverstandes war.
Mit Fähigkeiten begabt, von denen er wohl einen besseren Gebrauch hätte machen können, kleidete er seine schamlosen Trugschlüsse in eine kühne und glänzende Beredsamkeit, und es gelang ihm, mit Wohlgefallen gehört zu werden. Was sage ich? Er wurde gefeiert und bewundert. Man riß sich um seine Prosa und machte sich seine Verse streitig.
Dennoch war Lacenaire nicht von Anfang an so entschieden verderbt gewesen. Im Verlauf seiner ersten Vergehen war diese krankhafte Intelligenz noch nicht gänzlich vom Laster befleckt, und er hatte, ebenso wie Asselineau, jedoch in edlerer Sprache, das Schicksal seines allmählichen Falles zu erklären gesucht.
Wir entnehmen einem Artikel, welchen er in der »Tribüne der Proletarier« erscheinen ließ, die folgende Stelle:
»Ein junger Mann verfällt seinen Leidenschaften; indem er die Stimme der Ehre erstickt, die Grundsätze der Rechtlichkeit, die er in seiner Kindheit im Schoße seiner Familie erfahren, welche aber noch nicht Zeit gehabt haben, tiefe Wurzeln zu schlagen, mit Füßen tritt, begeht er ein Verbrechen. Sogleich bemächtigt sich seiner die Polizei und versenkt ihn lebendig in jene Kloake, welche ›das Depot der Präfektur‹ genannt wird.
Wer begegnet ihm bei seinem Eintritt? Entflohene Sträflinge, die man in Paris wieder ergriffen hat, Sträflinge, die
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