Tagebücher der Henker von Paris
ihre Ketten zerbrochen haben und aus ihrer Haft entsprungen sind, die man bei neuen Verbrechen auf frischer Tat ergriffen hat, außer den anderen Dieben, Gaunern, Spitzbuben aus Neigung, von Profession, fast von Geburt, ein von Lastern zerfressenes Geschlecht, Geißeln der menschlichen Gesellschaft, unverbesserliche Taugenichtse, welche, wenngleich sie nicht auf die Galeere gebracht worden sind, doch um nichts besser und schon seit längerer Zeit zu jedem rechtlichen Gedanken, zu jeder guten Tat unfähig sind.
Was soll aus unserem jungen, unerfahrenen Manne inmitten dieser verderbten Gesellschaft werden? Dort hört er zum ersten Male die barbarische Sprache eines Cartouche und eines Poulailler, ein schmachvolles Rotwelsch; dort sieht er, wie mit Zustimmung der Aufsichtsbeamten des Depots den Veteranen des Verbrechens, den berühmtesten dieser Gattung, die größere Gunst und Rücksicht gewährt wird; ihnen allein steht das Recht zu, die armen Teufel, welche durch mancherlei Umstände in ihre Mitte gebracht worden sind, zu drücken, zu quälen, selbst nach Belieben mit Füßen zu treten. Wehe unserem jungen Mann, wenn er nicht schnell ihrem Ton, ihren Grundsätzen und ihrer Sprache beistimmt! Er wird bald als ein falscher Bruder erkannt und für unwürdig geachtet, sich an die Seite der Freunde zu setzen! Nun gibt es keine Art der Quälerei, welcher er nicht unrettbar anheimfällt; Beschwerden darüber würden von den Aufsehern selber, welche immer geneigt sind, jene Veteranen zu beschützen, übel vermerkt werden und nur den Zorn des Profoß, der gewöhnlich ein ehemaliger Sträfling ist, ebenso wie den Zorn seiner Mitgefangenen reizen.
Bei all dieser Ruchlosigkeit, diesen rohen Gebärden und Anträgen, diesen schändlichen Erzählungen und ekelhaften Verbrechen errötet der Unglückliche zum erstenmal über ein Gefühl der Scham und Unschuld, welche ihm bei seinem Eintritt geblieben war. Er schämt sich, ein geringerer Verbrecher zu sein als seine Gefährten; er fürchtet ihre Spöttereien, ihre Verachtung; denn man täusche sich nicht, es gibt Achtung und Geringschätzung sogar auf der Bank der Galeere, woraus es sich erklärt, daß einige Sträflinge sich dort wohler befinden als im Schoße der Gesellschaft, von welcher sie nur mit Verachtung behandelt werden. Niemand gibt sich willig der Geringschätzung seiner Umgebung preis.
Unser junger Mann bildet sich wohlweislich sogleich an den besten Mustern, die sich von dieser Gattung vorfinden; er bildet sich nach ihrem Tone und ihren Manieren; er ahmt ihnen nach; in zwei Tagen spricht er ihre Sprache so gut wie sie selber; nun ist er nicht mehr ein armer Einfaltspinsel, nun können die Freunde ihm die Hand reichen, ohne sich etwas zu vergeben. Man bemerke wohl, daß bisher nur eine kleinliche Ruhmsucht im Spiele ist, daß er nicht gern für einen Lehrling in der Gesellschaft gelten mag. Die Veränderung erstreckt sich noch mehr auf die Form als auf das Wesen. Zwei oder drei Tage, die er an diesem Sammelplatz von liederlichem Gesindel verlebt, konnten ihn noch nicht gänzlich verderben; aber seid überzeugt, der erste Schritt ist geschehen; er wird auf dem schönen Wege nicht stehenbleiben, und seine Erziehung, welche unter den Wölbungen der Polizeipräfektur ihren Anfang nahm, wird sich in Laforce vollenden und in Poissy oder in Melun ihr Ende erreichen.«
Als Lacenaire diese philanthropischen Übungsstücke veröffentlichte, hatte er noch nicht Blut geleckt, die Tigertatze noch nicht herausgekehrt. Eine ganz andere Haltung nahm er auf der Bank des Assisenhofes an; der schüchterne Jüngling, welcher jene Art Elegie in der »Tribüne der Proletarier« veröffentlichte, zeigte sich als Mann, der die Maske abgeworfen hatte und mit seinen Verbrechen prahlte.
Ich wiederhole es, man schenkte jenen ungeheuerlichen Prahlereien zu viel Aufmerksamkeit, ganz abgesehen von der Intelligenz ihres Urhebers. Man machte zu viel aus diesem Mörder, diesem Herostrat der Sittlichkeit, der das Schafott als Piedestal benutzen wollte; man gestattete ihm, in sein namenloses Grab den Trost mitzunehmen, er sei eine hochberühmte Persönlichkeit gewesen.
Lacenaire und Avril wurden am 15. November zum Tode verurteilt. Beide legten Appellation ein; der erstere erklärte, es geschähe nur, um Zeit zu gewinnen, seine »Denkwürdigkeiten« zu schreiben.
Ja, bei Gott, die Empfindlichkeit, die sich schon entsetzte bei der Ankündigung der Veröffentlichung meiner Memoiren, erwies sich viel
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