Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
flitzen (statt hier zu sitzen und an Texten zu arbeiten, z. B. zwei sehr wichtigen, vielleicht sogar guten?? Funk-Essays, die verabredet sind). Andererseits finde und fand ich’s schnöde, daß nun, da der alte Mann «nicht mehr ist», alle wegbleiben, die vorher, zu Zeiten der Gruppe, nicht eilig genug ihren Ruhm dort ernten kamen; selbst Böll, der ja für Raketenblockaden Zeit hat, hätte kommen müssen – und sei es nur für zwei Stunden. So war es eigentlich nur 2. Besetzung, mit Ausnahme von Grass, Johnson und Hildesheimer (denn in Wahrheit sind ja auch Raddatz, Kaiser und Hans Mayer 2. Besetzung). Johnson wirklich krank, seit mittags betrunken, wir mußten einmal den Notarzt holen; und wenn er nicht voll ist, ist er bösartig. Ich glaube, der schreibt nie wieder ein Buch. So war es eine eher makabre Veranstaltung, auf der Hans Mayer (der offenbar seine Bücher im Vertreterkoffer mit sich schleppt) das vor Jahren erschienene AUSSENSEITER verteilte (zum peinlichen und stummen Entsetzen der Teilnehmer), auf der Hildesheimer mir erklärte – was ich auch nicht NUR komisch finden kann –, daß er das Wunderlich-Buch, das ich ihm geschenkt habe, ZERSCHNITTEN habe, um Collagen daraus zu machen; eine, wie ich finde, erbarmungslose Sache; selbst wenn jemand Pauls Sachen nicht mag, kann man sie doch nicht ZERSCHNEIDEN. Grass erzählte – zur bleichen Wut Johnsons, der das hatte werden wollen – viel von seiner Akademie-Präsidentschaft, und niemand hörte zu, als ich die (wahre) Anekdote zum besten gab, daß Wunderlich, als man ihn einlud, in die Hamburger Akademie einzutreten, geantwortet hatte: «Gerne – aber nur, wenn auch Horst Janssen aufgenommen wird …» Ich zog immerhin eine Konsequenz: Ich betrank mich nicht, spielte nicht meine stets erwartete Rolle des heiteren Partyclowns, sondern ging Mitternacht zu Bett – nachdem ich zum Dinner dem Geburtstagskind 75 weiße Rosen geschenkt hatte. Die Herren Kollegen hatten ihm je ein Taschenbuch ihres letzten Opus gestiftet. Wer hat mir neulich gesagt: Du lebst unter Verrätern?
4. Advent
Vorm Besuch bei einem der anderen «Größten», bei Grass in Portugal, graule ich mich zunehmend. Natürlich nehme ich mir auch übel, Gerd zu Silvester alleine zu lassen – nur ist das eine so alte Verabredung, letztlich schon 2 Jahre alt, wenn damals auch noch nicht auf den Tag fixiert, daß ich mir auch wieder etwas Maria-haft vorgekommen wäre, nun April, April zu rufen, wo die Grassens extra alle Kinder meinetwegen ausgeladen haben. Aber ich graule mich auch, weil ja eine Woche zu dritt (ich hab’s schon von 10 auf 6 Tage reduziert «wegen Umbruch») doch ziemlich viel ist, weil er sehr Sonnensystem ist, und weil Ute, die ich ja sehr gerne mag, todunglücklich ist – ich weiß nicht, ob da nicht sogar eine Trennung ins Haus steht. Er betrügt sie an jeder Ecke (manches wußte ich durch die Urwaldtrommel und schwieg darüber, wie sich’s gehört, in der Hoffnung, es dränge nicht auch zu ihr). Das Ganze eine Mischung aus verschwiemelter Katholizität und Größenwahnrotz: «Ich wünsche nicht, mit einem schlechten Gewissen zu leben – ich wünsche zu leben, wie ich will.» Hm.
1984
Rückflug aus Portugal, 5. Januar
Was für eine hochseltsame Reise; ich sitze im Flugzeug Faro – Lissabon – Porto – Frankfurt – Hamburg und resümiere: 5 Tage in dem bestürzend primitiven Haus von Grass in der Algarve, kein Strom, keine Heizung, kein Telefon, Wasser knapp, unbequeme Möbel, kein einziger Sessel im Haus, kein Sofa, kein Liegestuhl, ein Gärtlein mit Winz-Bäumchen und -Büschen, ein kahles Atelier (mit übrigens ganz schönen neuen erotischen Skulpturen), Frühstück am Klapptisch mit Hockern (!) und abends eine Wärmflasche ins eisige Bett, waschen zitternd vor Kälte (und ich, ungewarnt, zuwenig und zu dünne Sachen dabei):
Und dennoch waren es schöne Tage. Eine Mischung aus großer Herzlichkeit und gänzlicher Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber, sein Humor («Kannst du eigentlich reiten?» – «Wahrscheinlich») und seine erfinderische Genügsamkeit (macht sich Tinte zum Zeichnen aus der Blase von Tintenfischen) formen schon alles in allem eine starke Persönlichkeit. Ute – der gute Geist, freundlich, lieb Bäume pflanzend oder Jeep fahrend, ständig zur Stelle («Ute, was steht da?», «Ute, wie heißt diese Graphik?» den ganzen Tag) – warum tun Frauen das?
Der große Krach blieb aus, Grass nahm (2. Abend) meine ganz unverhohlene
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