Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
oder gar kulturpolitischen Wert privat zu vermachen; sie sollten eines (zu bestimmenden) Tages der Öffentlichkeit gehören.
Das betrifft nun, dem Charakter der Arbeit dieser verschiedenen «Produzenten» entsprechend, ganz unterschiedliche Dinge.
Bei Wunderlich ist es am sinnfälligsten und deutlichsten: Es sind optische Gegenstände von großer Vielfalt und Vielzahl, Bilder, Gouachen, Lithographien, Skulpturen, Möbel, Objekte.
Bei Grass ist es sozusagen gemischt. Einerseits existiert ja von ihm inzwischen auch ein ziemlich variiertes bildnerisches und bildhauerisches Werk; andererseits gibt es Manuskripte, Studien und vor allem eine enorme Korrespondenz.
Wieder anders im Fall Raddatz. Abgesehen von meinen vielleicht nicht allzu wertvollen Manuskripten existiert zum einen eine sehr umfangreiche Autographensammlung mit Briefen wohl fast sämtlicher europäischer Intellektueller und Schriftsteller von A wie Aragon oder Alfred Andersch über B wie Böll und Bachmann oder James Baldwin das Alphabet hindurch bis zu Z wie Zuckmayer. Wesentlicher aber vielleicht ist meine private Sammlung, von der Sie ja am Donnerstag einiges sehen werden, die ziemlich viele Exponate der europäischen Moderne umfaßt: Picasso und Max Ernst, Beckmann und Christian Schad, die wohl umfassendste Privatsammlung von Paul Wunderlich überhaupt, aber auch Hundertwasser und Botero, Richard Lindner und Delvaux, um nur einige zu nennen.
Uns allen leuchtet nicht ein, daß derlei eines Tages an Kinder, Witwen oder Neffen gehen soll. Ich will mich in meinem Fall nicht vermessen und meine Dinge etwa mit der Sammlung Wormland vergleichen, von der Sie gewiß gehört haben. Sicher aber scheint mir zu sein, daß es sich hier um Werte handelt, die eines Tages, sagen wir: Zeitgenossenschaft repräsentieren; und ebenso sicher ist, deshalb müßte dieses Gespräch wohl doch auch ernsthaft geführt werden, daß inzwischen jeder von uns, weil Hamburg in seiner sprichwörtlichen kulturellen Sorgfalt sich nie ernstlich gekümmert hat, andere Pläne verfolgt: Günter Grass erwägt, seinen gesamten Nachlaß Danzig zu vermachen; Paul Wunderlich ist bereits mit großer Energie dabei, eine Fondation (etwa nach dem Beispiel der Fondation Vasarély) in Frankreich zu organisieren, und ich stehe bereits in Verhandlung mit dem Schiller-Archiv in Marbach, das dringlich an dem kulturellen bzw. kulturpolitschen Teil des «Raddatz-Erbes» interessiert ist. (Sie wissen vermutlich, daß ich Präsident der Kurt-Tucholsky-Stiftung bin und der gesamte Tucholsky-Nachlaß in Marbach verwahrt und verwaltet wird.)
Unsere Überlegungen sind zugegebenermaßen – und können es wohl in diesem Stadium auch nicht anders sein – vage. Ich hatte mehrere Gespräche seinerzeit mit Bürgermeister Klose und eine ausführliche Unterhaltung mit Freiherr von Saldern (der von dem Plan entzückt war und sehr begierig schien, ein solches Stadtmuseum seinem Museum für Kunst und Gewerbe anzugliedern). Wir finden uns also in der etwas grotesken Situation, daß einige Leute, die die Nachkriegszeit wohl doch ein wenig mitgeprägt haben, das Resultat ihrer Lebensarbeit verschenken wollen aus, sagen wir einmal: Hamburger Bürgersinn. Ich vor allem bin es, den es einigermaßen empört, daß wir damit gleichsam hausieren gehen müssen, denn ich stehe, um ein Beispiel zu geben, auch verbittert in dem wunderschönen Haus von Lion Feuchtwanger in Kalifornien und sage mir, eigentlich gehört das nach Berlin-Grunewald und nicht an die University of California. Als Historiker und Literarhistoriker erlaube ich mir den hoffentlich nicht hoffärtigen Vergleich: Ein Haus, in dem von Korrespondenz bis Bildern, von einer Privatsammlung bis zu Manuskripten die Nachlässe von Beckmann, Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Alfred Kerr und Theodor Wolff gesammelt wären – ein solches Haus würde ich sehr gern in Deutschland sehen und besuchen.
Es besteht also, wie mir ernsthaft scheint, hier eine ganz große Chance für Hamburg, etwas Exemplarisches zu erhalten bzw. zu konstruieren bzw. das unwiederbringliche Abwandern von wichtigen Zeugnissen der Kultur der Nachkriegszeit zu verhindern. Deshalb schreibe ich vor unserem Abendessen diesen Brief, damit Sie nicht jäh und unvorbereitet mit solchen Überlegungen konfrontiert werden; es ist, fürchte ich, in dieser Sache mein letzter Versuch.
Ich freue mich auf unseren Abend und bin
mit herzlichen Grüßen
Ihr
Fritz J. Raddatz
25. Januar
Absurd-deprimierender
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