Tagebücher
stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so 174
fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke dort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens.
Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: "Es lebe unser geliebter Monarch, hoch. " Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt. Natürlich reißen sie manchen mit. Organisiert war es gut. Es soll sich jeden Abend wiederholen, morgen Sonntag zweimal.
7. (August 1914) Man behandelt, selbst wenn man nicht die geringste sichtbare Fähigkeit zu individualisieren hat, doch jeden nach seiner Art. "L. aus Binz" streckt mir, um auf sich aufmerksam zu machen, den Stock entgegen und erschreckt mich.
Die festen Schritte auf der Schwimmschule.
Gestern und heute 4 Seiten geschrieben, schwer zu überbietende Geringfügigkeiten.
Der ungeheuere Strindberg. Diese Wut, diese im Faustkampf erworbenen Seiten.
Chorgesang aus dem gegenüberliegenden Wirtshaus. - Gerade bin ich zum Fenster gegangen.
Schlaf scheint unmöglich. Durch die offene Gasthaustüre kommt der volle Gesang. Eine Mädchenstimme intoniert. Es sind unschuldige Liebeslieder. Ich ersehne einen Schutzmann.
Gerade kommt er. Er bleibt ein Weilchen vor der Tür stehn und hört zu. Dann ruft er: "Der Wirt! "
Die Mädchenstimme: "Vojtíšku. " Aus einer Ecke springt ein Mann in Hose und Hemd. "Macht die Tür zu! Wer soll den Lärm anhören?" "Oh bitte, oh bitte" sagt der Wirt und mit zarten entgegenkommenden Bewegungen, als verhandele er mit einer Dame schließt er zuerst die Tür hinter sich, öffnet sie dann um hineinzuschlüpfen und schließt sie wieder. Der Schutzmann (dessen Verhalten insbesondere dessen Wut unbegreiflich ist, denn ihn kann der Gesang nicht stören, sondern nur seinen langweiligen Dienst versüßen) marschiert ab, die Sänger haben die Lust am Singen verloren.
11. (August 1914) Vorstellung daß ich in Paris geblieben bin, Arm in Arm mit dem Onkel eng an ihn gedrückt durch Paris gehe 12. (August 1914) Gar nicht geschlafen. Nachmittag 3 Stunden schlaflos und dumpf auf dem Kanapee gelegen, in der Nacht ähnlich. Es darf mich aber nicht hindern.
15. (August 1914) Ich schreibe seit paar Tagen, möchte es sich halten. So ganz geschützt und in die Arbeit eingekrochen, wie ich es vor 2 Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir führen und starre nicht so in vollständige Leere. Nur auf diesem Wege gibt es für mich eine Besserung.
Eine Zeit meines Lebens - es ist nun schon viele Jahre her - hat ich eine Anstellung bei einer kleinen Bahn im Innern Rußlands. So verlassen wie dort bin ich niemals gewesen. Aus verschiedenen Gründen, die nicht hierhergehören, suchte ich damals einen solchen Ort, jemehr Einsamkeit mir um die Ohren schlug, desto lieber war ich und ich will also auch jetzt nicht darüber klagen. Nur Beschäftigung fehlte mir in der ersten Zeit. Die kleine Bahn war ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden, das Kapital hatte aber nicht ausgereicht, der Bau kam ins Stocken und statt nach Kalda dem nächsten von uns 5 Tagereisen mit dem Wagen entfernten größern Ort zu führen machte die Bahn bei einer kleinen Ansiedlung 175
geradezu in einer Einöde halt, von wo noch eine ganze Tagereise nach Kalda nötig war. Nun hätte die Bahn selbst wenn sie bis Kalda ausgedehnt worden wäre noch für unabsehbare Zeiten unrentabel bleiben, denn ihr ganzer Plan war verfehlt, das Land brauchte Straßen aber keine Eisenbahnen, in dem Zustand jedoch in dem sich die Bahn jetzt befand, konnte sie überhaupt nicht bestehn, die zwei Züge die täglich verkehrten, führten Lasten mit sich, die ein leichter Wagen hätte transportieren können, und Passagiere waren nur ein paar Feldarbeiter im Sommer. Aber man wollte die Bahn doch nicht gänzlich eingehn lassen, denn man hoffte immer noch, dadurch daß man sie im Betrieb erhielt, für den weitern Ausbau Kapital anzulocken. Auch diese Hoffnung war meiner Meinung nach nicht sosehr
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