Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher

Tagebücher

Titel: Tagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
aber sonst mich mit diesem Unglück untrennbar vereinige, alle frühern Unglücksfälle zu mir herauf, alle späteren zu mir herunterziehe, war ich diesmal fast vollständig unabhängig, ertrug alles als etwas einmaliges ganz leicht und fühlte sogar zum erstenmal im Teater meinen Kopf als einen Zuschauerkopf aus dem gesammelten Dunkel der Fauteuils und Körper in ein besonderes Licht hochgehoben, unabhängig von der schlechten Veranlassung dieses Stückes und dieser Aufführung.

    Ein zweites Beispiel: Gestern abend reichte ich meinen beiden Schwägerinnen in der Mariengasse gleichzeitig beide Hände mit einer Geschicklichkeit, wie wenn es zwei rechte Hände wären und ich eine Doppelperson.

    21. (Oktober 1911) Ein Gegenbeispiel: Meinem Chef kann ich, wenn er mit mir Bureauangelegenheiten beräth (heute die Karthotek) nicht lange in die Augen schauen, ohne daß in meinen Blick gegen allen meinen Willen eine leichte Bitterkeit kommt, die entweder meinen oder seinen Blick abdrängt. Seinen Blick flüchtiger aber öfter, da er sich des Grundes nicht bewußt ist, jedem Anreiz wegzuschauen nachgibt, gleich aber den Blick zurückkehren läßt, da er das Ganze nur für eine augenblickliche Ermattung seiner Augen hält. Ich wehre mich dagegen stärker, beschleunige daher das zickzackartige meines Blickes, schaue noch am liebsten seine Nase entlang und in die Schatten zu den Wangen hin, halte das Gesicht in seiner Richtung oft nur mit Hilfe der Zähne und der Zunge im geschlossenen Mund, wenn es sein muß, senke ich zwar die Augen aber 28
    niemals tiefer als bis zu seiner Kravatte, bekomme aber gleich den vollsten Blick, wenn er die Augen wegwendet und ich ihm genau und ohne Rücksicht folge.

    Die jüdischen Schauspieler: Frau Tschissik hat Vorsprünge auf den Wangen in der Nähe des Mundes. Entstanden teils durch eingefallene Wangen infolge der Leiden des Hungers, des Kindbetts, der Fahrten und des Schauspielens teils durch ruhende ungewöhnliche Muskeln die sich für die Schauspielbewegungen ihres großen ursprünglich sicher schwerfälligen Mundes entwickeln mußten. Als Sulamith hatte sie meist die Haare gelöst, die ihre Wangen verdeckten, so daß ihr Gesicht manchmal wie ein Mädchengesicht aus früherer Zeit aussah. Sie hat einen großen, knochigen, mittelstarken Körper und ist fest geschnürt. Ihr Gang bekommt leicht etwas feierliches, da sie die Gewohnheit hat, ihre langen Arme zu heben, zu strecken und langsam zu bewegen.
    Besonders als sie das jüdische Nationallied sang, in den großen Hüften schwach schaukelte und die parallel den Hüften gebogenen Arme auf und ab bewegte mit ausgehöhlten Händen, als spiele sie mit einem langsam fliegenden Ball.

    22. (Oktober 1911) Gestern bei den Juden "Kol-Nidre" von Scharkansky ziemlich schlechtes Stück mit einer guten witzigen Briefschreibscene, einem Gebet der nebeneinander mit gefalteten Händen aufrecht stehenden Liebenden, dem Anlehnen des bekehrten Großinquisitors an den Vorhang der Bundeslade, er steigt die Stufe hinauf und bleibt dort den Kopf geneigt die Lippen am Vorhang stehn, hält das Gebetbuch vor seine klappernden Zähne. Zum erstenmal an diesem vierten Abend meine deutliche Unfähigkeit einen reinen Eindruck zu bekommen. Schuld daran war auch unsere große Gesellschaft und die Besuche beim Tisch meiner Schwester. Trotzdem, so schwach hätte ich nicht sein dürfen. Mit meiner Liebe zur Frau Tschissik, die nur durch Max neben mir saß, habe ich mich elend aufgeführt. Ich werde aber wieder hinaufkommen, schon jetzt ist es besser.

    Frau Tschissik (ich schreibe den Namen so gerne auf) neigt bei Tisch auch während des Gansbratenessens gern den Kopf, man glaubt unter ihre Augenlider mit dem Blick zu kommen, wenn man zuerst vorsichtig die Wangen entlangschaut und dann sich kleinmachend hineinschlüpft, wobei man die Lider gar nicht erst heben muß, denn sie sind gehoben und lassen eben einen bläulichen Schein durch, der zu dem Versuch verlockt. Aus der Menge ihres wahren Spiels kommen hie und da Vorstöße der Faust, Drehungen des Armes, der unsichtbare Schleppen in Falten um den Körper zieht Anlegen der gespreizten Finger an die Brust weil der kunstlose Schrei nicht genügt. Ihr Spiel ist nicht mannigfaltig: das erschreckte Blicken auf ihren Gegenspieler, das Suchen eines Auswegs auf der kleinen Bühne, die sanfte Stimme, die in geradem kurzen Aufsteigen nur mit Hilfe größeren innerlichen Widerhalls ohne Verstärkung heldenmäßig wird, die Freude,

Weitere Kostenlose Bücher