Fluch der Engel: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Geburtsstunde einer Lüge
B estimmt schon zum zwanzigsten Mal warf ich einen Blick zurück, nur um sicherzugehen, dass ich auch wirklich nicht verfolgt wurde. Aron, mein Tutor, wäre wieder in seinen Bodyguard-Modus verfallen, wenn er gewusst hätte, wohin ich unterwegs war. Und Christopher? Er wäre ausgerastet, hätte sich in seine zumindest für mich so wunderschöne Racheengelgestalt verwandelt und mir mit seinen leuchtenden Engelschwingen den Weg versperrt – vielleicht auch mit seinem Schwert, was ich dann vermutlich weniger schön gefunden hätte. Aber ihn einweihen und von dem Brief erzählen ging nicht – zumindest vorerst nicht.
Ein Schatten huschte an der gegenüber dem Kanal liegenden Hauswand vorbei. Schnell verdrückte ich mich in der nächstbesten Nische. Eigentlich völliger Quatsch. Mit dem schwarzen Casanova-Umhang und der weißen Pestmaske würde mich sowieso niemand erkennen. Und meine langen, dunklen Haare hatte ich vorsorglich unter den dreieckigen Hut gestopft, der sozusagen zur Standardausrüstung gehörte. Auch hier, im verborgenen Venedig, der Metropole der Engel, war Karneval.
Lautlos glitt die schwarze Gondel an meinem Versteck vorüber. Nur das Eintauchen des Ruders war zu hören und das sanfte Plätschern der Wellen, die gegen die Kaimauer schlugen, während das Boot hinter der nächsten Kanalbiegung verschwand. Der Engel, der die Gondel steuerte, hatte mich nicht entdeckt – und offenbar auch nicht nach mir gesucht. Sonst wäre er langsamer gefahren. Obwohl es an sich schon eigenartig war, dass ein Engel das oberirdische Kanalsystem benutzte – schließlich konnten Engel fliegen – die meisten zumindest. Ich schaffte bislang nur einen Gleitfluginklusive Bruchlandung. Aber ich war ja auch kein normaler Engel, dem das Fliegen im Blut lag. Ich war dabei, ein Racheengel zu werden – zumindest versuchte ich das. Immerhin hatte ich vor ein paar Tagen die erste Bewährungsprobe bestanden. Trotz Fallstricken und Hinterhalten. Dass ich ausgerechnet zu einem Treffen mit demjenigen unterwegs war, der meine Prüfung sabotiert hatte, schien irgendwie zu einer unliebsamen Gewohnheit zu werden. Aber hatte ich eine andere Wahl? Nein. Nicht, wenn es um meinen ältesten und treuesten Freund ging: Philippe.
Um sicherzugehen, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte – mein Orientierungssinn war nicht der allerbeste –, kramte ich noch einmal den Brief hervor, den Lucia, Philippes Scheinfreundin , mir gestern bei meinem Bummel auf dem Canal-Grande-Boulevard zugesteckt hatte. Natürlich war sie verkleidet gewesen. Ich hatte sie dennoch erkannt: an der Art, wie sie lief, an ihren gepflegten Händen, aber vor allem an ihren Augen. Anders als bei mir war das Braun bei ihr nicht dunkel, sondern honigfarben und trotz der hellen Färbung eisig kalt, sobald sie mich ansah.
Wie jedes Mal, wenn ich den Brief auffaltete, begannen meine Hände zu zittern. Ich riss mich zusammen. Racheengel sollten taff und keine Weicheier sein. Trotzdem zitterten sie weiter, während ich las.
Teuerste Lynn,
meinen Glückwunsch. Du hast die Prüfungen besser gemeistert, als ich das von dir erwartet hätte. Und auch wenn der Rat der Engel zu meinem Bedauern beschlossen hat, dich weiterhin in Arons Obhut zu belassen, ist es an der Zeit, dass du deinen Teil des Pakts einlöst, da ich meinen bereits erfüllt habe. Schließlich war ich derjenige, der dir den Weg ins Schloss der Engel ermöglicht hat.
Deine beiden Bewacher werden vor Beginn des Lichtmeerfestes beschäftigt sein. Eine Gondel wird dich, eine Stunde nachdem sie das Haus verlassen haben, abholen. Wo, findest du auf der Karte. Und sei pünktlich.
Obwohl ein weiterer Flüsterer mir immer willkommen ist, scheint Philippe der Benebelungstrank nicht besonders gut zu bekommen.
Und komm allein, sonst kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren.
Sanctifer, Mitglied des Rats der Engel
PS: Falls du Zweifel hegst, ich kann dich auch holen lassen!
Die Drohung war eindeutig. Wenn ich nicht aufkreuzte, würde Sanctifer mich entführen oder zu sich befehlen und meinen Freund zu einem ihm hörigen Lakaien machen.
Ich hatte mich also doch nicht getäuscht, als ich glaubte, Philippe beim Maskenball der Engel begegnet zu sein. Das mit dem Pakt sah ich allerdings anders als Sanctifer. Aber das würde ich später klären – nachdem Philippe wieder in seiner Welt und in Sicherheit war.
Argwöhnisch spähte ich aus meinem Versteck. Die Gasse neben dem
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