Tal der Träume
sie war nicht krank. Körperlich war sie kerngesund.
»Es geht mir ganz gut«, sagte sie. »Wirklich. Ich bin nur ein bisschen müde. Wahrscheinlich bin ich in letzter Zeit einfach erschöpft.« Sie tupfte sich die Augen und zwang ein Lächeln herauf. »Ja, du solltest dich ein wenig hinlegen. Ich will nicht, dass du unglücklich bist, Mutter. Vielleicht ist es auch nur das entsetzliche Wetter, die Hitze ist heute fast unerträglich. Rekordtemperaturen, würde ich sagen. Ein Nickerchen wird dir gut tun.«
Sibell nickte. »Ja, das werde ich tun. Danke, Lucy.«
Endlich allein in ihrem Schlafzimmer, hinter verschlossenen Türen, brach sie in Tränen aus. Wie konnte sie irgendjemandem ihr Problem erklären, wenn sie doch selbst nicht wusste, was mit ihr nicht stimmte? Sie schämte sich dafür, dass sie, Sibell Hamilton, die eine liebevolle Familie, ein gutes Zuhause und so vieles besaß, für das sie dankbar sein sollte, so undankbar sein konnte, auch nur davon zu sprechen, dass sie fort wollte. Aber sie wollte fort, sie war fest entschlossen. Diese Anfälle von Kummer verfolgten sie inzwischen seit etwa zwei Jahren und wurden allmählich schlimmer. Wenn die Schwermut sie überkam, war sie keine angenehme Gesellschaft, hatte an nichts Freude und wurde schwierig im Umgang mit jedem, der ihr begegnete.
Zack hatte in seiner freundlichen Art versucht, mit ihr darüber zu sprechen, hatte sie gebeten, weniger ungeduldig zu sein, vor allem mit den Arbeitskräften auf der Station. Er wünschte sich so sehr, dass sie ihre gute Laune wieder fand, dass sie über kleinere Schwierigkeiten wieder lachen könnte, nicht alles so schwer nahm. Aber diese Gespräche endeten jedes Mal damit, dass sie vor ihrem ratlosen, aufgebrachten Mann in Tränen ausbrach. Einige Male hatte er versucht herauszufinden, was sie so unglücklich machte, hatte sie gefragt, was er tun oder sagen könnte, um ihr eine Freude zu machen, aber allmählich reagierte auch er gereizt auf das, was er ihre Launen nannte. Sibell wusste, es lag nicht am Wetter. Sie hatte Jahre der Dürre überlebt, ohne so zusammenzubrechen, und sie wusste jetzt schon, die Ferien in Darwin würden keine Lösung bringen. Im letzten Jahr hatte sie gehofft, der Seewind würde ihre Verzweiflung einfach davonwehen, aber es war nicht geschehen, und da begriff sie, dass ihr vor der Rückkehr auf die Station graute. Mittlerweile hatte sie ein Jahr lang Zeit gehabt, über den Grund für ihre furchtbare Schwäche nachzudenken, die ihr so peinlich war: Sie war doch wirklich immer eine starke Frau gewesen. Aber sie fand keine Antwort. Es gab keinen Grund für ihre Schwermut, keinen einzigen, und deshalb gab es nur eine Erklärung: Sie war dabei, den Verstand zu verlieren.
Aber sie dachte nicht im Traum daran, das irgendjemandem gegenüber zuzugeben. Niemals würde sie ihnen sagen, dass sie verrückt wurde. Sie würde der Sache ein Ende bereiten, ein Mittel finden, um gesund zu werden, und deshalb musste sie nach Perth. Sibell war sicher, dort würde sie sich besser fühlen, glücklicher, entspannter in der städtischen Umgebung, und inzwischen freute sie sich auf den Umzug, obwohl Zack und nun auch Lucy so sehr dagegen waren.
Sie goss Wasser aus dem Krug auf dem Waschtisch in die Schüssel und benetzte Gesicht und Hals, um vorübergehend ein wenig Kühlung zu finden; dann legte sie sich mit einem feuchten Tuch über den Augen aufs Bett und hoffte, wie immer, auf das Wunder: dass sie von diesem Bett als glückliche, vernünftige Frau aufstehen würde und alles in ihrer Welt wieder am richtigen Platz stünde.
Lucy kehrte auf die Veranda zurück und lief die Stufen hinunter zu den Stallungen. Der Gedanke an die verrückte Idee ihrer Mutter, die Station zu verlassen, beunruhigte sie noch immer. Unterwegs traf sie Casey, den Vorarbeiter.
»Ah, Lucy. Ich wollte zu dir. Dein Vater wurde aufgehalten.«
»Was ist passiert?«
»Nichts Besonderes. Er musste helfen, Vieh von Big Run bis Campbell’s Gorge zu treiben.«
»O nein! Woher weißt du das?«
»Er hat ein paar von unseren Schwarzen auf dem Viehweg getroffen und sie mit der Nachricht zurückgeschickt. Damit wir uns keine Sorgen machen.«
Lucy war außer sich. »Sorgen? Ich könnte ihn erwürgen. Was zum Teufel denkt er sich dabei? Sollen wir hier eingeschlossen werden?«
Casey grinste. »Es ist noch viel Zeit. Der Regen ist noch weit.«
»Ach, wirklich?« Lucy wandte sich um und deutete auf eine graue Wolke in der Ferne. »Und
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