Die Story von Joanna
1
Nacht. Die Dunkelheit draußen schien wie Nebel dahinzutreiben und machte das große Haus noch leerer, noch düsterer.
Das Dienstmädchen, dessen schmuckes Gesicht und kurze Tracht einen scharfen Kontrast zur Umgebung bildeten, stellte die silberne Blumenvase auf die marmorne Tischplatte. Nelken und Gänseblümchen, weiß und gelb, noch feucht von ihrem Lebenstau. Es waren sechs Blumen, aber zusammen mit ihrem Bild im Spiegel über dem Tisch waren es zwölf. Sechs Blumen lebten neben dem Spiegel, sechs lebten darin - zwölf Blumen, zu langsamem Sterben verurteilt.
Die Stille wurde durch das Tapptapptapp harter Lederabsätze unterbrochen. Schritte kamen energisch über den auf Hochglanz gebohnerten Fußboden aus Hartholz. Männerschritte. Zielstrebig, ohne Zögern. Der Laut drückte Macht aus. Beinahe Gewalttätigkeit; aber eine Gewalttätigkeit, die fest unter Kontrolle war.
Jason blieb bei der Vase stehen, betrachtete das Spiegelbild und befingerte eine weiße Nelke. Sein kalter Blick war starr auf die Illusion im silberbeschichteten Glas gerichtet, aber nicht auf die Wirklichkeit. Er zupfte ein Blütenblatt ab und zerdrückte es zwischen Daumen und Zeigefinger.
Langsam ließ er die Hand sinken und berührte die silberne Vase.
Er genoß einen Moment dieses Gefühl, dann ging er weiter. Weder langsam noch schnell, aber mit den gleichen gemäßigten, selbstsicheren Schritten wie vorher.
Er erreichte einen Korridor, der in zwei Zimmer führte.
Jason blieb nicht stehen, sondern betrat sofort das Zimmer auf der rechten Seite.
Zwei Kerzen erhellten diesen Raum.
Die Smokingjacke aus blauem Samt schimmerte weich und warm im bernsteinfarbenen Licht.
Jason langte nach oben und nahm eine mit purpurnem Samt überzogene Schatulle von einem Regal.
Dieses Regal war angefüllt mit den Werken von Philosophen und Gelehrten: Hegel, Marquis de Sade, Husserl, Heidegger, Nietzsche.
Von den Gedanken dieser Männer war Jason einmal fasziniert gewesen; ihre Worte hatten ihn endlose Stunden gefangengehalten. Aber jetzt wurden sie ignoriert. Sie waren für ihn tot wie die Männer selbst.
Jason trug das Kästchen mit großer Sorgfalt über den Korridor ins andere Zimmer auf der linken Seite. Seine Finger streichelten den Samtbezug, dessen glattes Gewebe früher einmal ausschließlich dem Vergnügen von Königen vorbehalten gewesen war.
Jason streichelte den Stoff gerade kräftig genug, um die leichte Feuchtigkeit auf seiner Handfläche spüren zu können.
Er stellte die Schatulle auf einen großen, antiken Schreibtisch, der wuchtig mitten im Raum stand.
Das Fenster ging auf den Garten hinaus. Die Vorhänge waren weit geöffnet. Aber es war eine dunkle Nacht. Als einzige Helligkeit gab es draußen den schwachen Schimmer eines halbversteckten Mondes.
In diesem geisterhaft-gespenstischen Licht wirkte alles im Zimmer irgendwie unreal; Wände, Fußboden, Decke, Möbel schienen nur nebelhaft verschwommene Gegenstände zu sein, die sich in ständiger Bewegung befanden ... wie in einem Traum.
Auf dem Schreibtisch - er hätte von Ludwig XIV. benutzt worden sein können - befanden sich nur dieses Samtkästchen, eine Lampe, die Jason nun einschaltete, und Schreibmaterialien. Ein schlichter Holzfederhalter und ein verschnörkeltes Tintenfaß aus Kristall.
Jason, dessen stattliches Profil sich wie eine Silhouette auf dem weiß leuchtenden Schreibpapier abzeichnete, wußte genau, was er jetzt zu tun hatte.
Er tauchte die Feder ins Tintenfaß, hielt sie einen Moment ins Licht und beobachtete, wie die Tinte an der Feder zur Spitze lief. Das dauerte nur einen Sekundenbruchteil.
Dann brachte Jason das Papier in die richtige Lage, sammelte kurz seine Gedanken, ließ einen Seufzer hören und begann zu schreiben:
Dies ist das wahrhaftige Ende ... was ich bin, und was Du bist ... es ist alles hier. Die Rollen, die ich Dich habe spielen lassen - es ist alles in meinem Kopf. Eine Masse . . . eine geballte Ladung aus Gefühlen und Emotionen. Blitzaufnahmen der letzten paar Tage. Ich weiß, daß ich alles aus meinem Unterbewußtsein wieder hervorholen kann. Ich weiß, daß ich es so ausbreiten kann, daß auch Du es sehen kannst. Dies ist nicht mein Wunsch, sondern eher ein Zwang. Manchmal wünsche ich, es ändern zu können ... Etwas festhalten. Damit Du am Ende mehr an mich und - durch ein bißchen geschicktes Manipulieren der Wahrheit - weniger an Dich denken wirst. Etwas mehr von mir und etwas weniger von Dir halten. Ich bin absolut sicher,
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