Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
über seine Wange strichen, ließen ihn zusammenzucken. Als sich Tobin umdrehte, stellte er bestürzt fest, dass seine Mutter unmittelbar hinter ihm stand. Sie glich selbst fast einem Geist, allerdings einem Geist, den Tobin sehen konnte. Seine Mutter war dünn und blass. Ihre unruhigen Hände flatterten umher wie sterbende Vögel, wenn sie nicht die hübschen Lumpenpuppen nähten oder die hässliche alte Puppe umklammerten, die sie stets bei sich trug. Im Augenblick klemmte sie unter ihrem Arm und schien Tobin anzustarren, obwohl sie kein Gesicht besaß.
Dass sie ihre Kammer überhaupt verlassen hatte, überraschte ihn ebenso sehr, wie sie hier anzutreffen. Wenn Tobins Vater zu Hause war, blieb sie ansonsten stets für sich und mied ihn. Was Tobin auch am liebsten war.
Es war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen, rasch in die Augen seiner Mutter zu blicken; Tobin hatte schon jung gelernt, die Stimmung jener in seinem Umfeld abzuwägen, ganz besonders die seiner Mutter. Für gewöhnlich sah sie ihn bloß wie eine Fremde an, kalt und zurückhaltend. Wenn der Dämon Dinge nach Tobin warf oder ihn zwickte, umarmte sie nur ihre hässliche, alte Puppe und schaute weg. Tobin umarmte sie so gut wie nie, wenngleich sie an ganz schlimmen Tagen mit ihm sprach, als wäre er noch ein Säugling oder als wäre er ein Mädchen. An solchen Tagen schloss sein Vater sie in ihrer Kammer ein, und Nari braute einen besonderen Tee, den sie trinken sollte.
Nun jedoch wirkten ihre Augen klar, wie er feststellte. Sie lächelte beinah, als sie ihm eine Hand entgegenstreckte. »Komm her, mein kleiner Liebling.«
So hatte sie noch nie mit ihm geredet. Beunruhigt spähte Tobin auf die Tür zum Zimmer seines Vaters, doch sie bückte sich und ergriff seine Hand mit der ihren. Ihr Griff fühlte sich ein wenig zu fest an, als sie ihn auf die verriegelte Tür am Ende des Ganges zuzog, jene Tür, die nach oben führte.
»Ich darf dort nicht hinauf«, sagte Tobin mit einer Stimme kaum lauter als das Piepsen eines Vogels. Nari hatte ihm erzählt, dass dort oben die Böden morsch wären und Ratten und Spinnen – so groß wie seine Faust – hausten.
»Mit mir darfst du hinauf«, gab sie zurück, holte einen großen Schlüssel aus dem Rock hervor und öffnete die verbotene Tür.
Eine Treppe führte zu einem Gang, der stark jenem darunter ähnelte. Auch hier gab es zu beiden Seiten Türen, aber es war staubig und roch feucht, und die Läden der kleinen Fenster hoch oben an den Wänden erwiesen sich als fest verschlossen.
Im Vorbeigehen spähte Tobin durch eine offene Tür und erblickte ein durchhängendes Bett mit ausgefransten Vorhängen, aber keine Ratten. Am Ende des Ganges öffnete seine Mutter eine kleinere Tür und führte ihn eine sehr steile, schmale Treppe hinauf, die durch ein paar Bogenschießscharten in den Wänden erhellt wurde. Das Licht reichte kaum aus, um die abgetretenen Stufen zu erkennen, aber Tobin wusste, wo sie sich befanden.
Sie waren im Wachturm.
Um besser das Gleichgewicht zu halten, ließ er eine Hand an der Wand entlanggleiten, zog sich jedoch wieder zurück, als seine Finger über Flecken von etwas Rauem strichen, die sich bei seiner Berührung lösten. Mittlerweile hatte er Angst und wollte hinab in den hellen, sicheren Teil des Hauses rennen, doch seine Mutter hielt immer noch seine Hand.
Als sie immer höher stiegen, flatterte plötzlich etwas in den Schatten über ihnen – zweifellos der Dämon oder ein noch schlimmeres Grauen. Tobin versuchte, sich loszureißen, aber sie hielt ihn fest und lächelte ihn über die Schulter an, als sie ihn zu einer schmalen Tür am Kopf der Treppe führte.
»Das sind nur meine Vögel. Sie haben hier ihre Nester – und ich das meine. Doch nur sie können hinaus- und hereinfliegen, wann immer sie möchten.«
Sie öffnete die schmale Tür; Sonnenlicht flutete heraus. Tobin musste blinzeln, als er über die Schwelle stolperte.
Er hatte immer gedacht, der Turm stünde leer und sei verwaist, außer vielleicht von dem Dämon. Tatsächlich jedoch enthielt er ein hübsches, kleines Wohnzimmer, viel schöner eingerichtet als alle anderen Kammern unten. Erstaunt sah er sich um. Niemals hätte er sich ausgemalt, dass seine Mutter einen so wunderbaren geheimen Ort besitzen könnte.
An drei Seiten hingen ausgebleichte Vorhänge vor den Fenstern, die Westwand hingegen erwies sich als kahl, und die schweren Läden standen offen. Tobin sah auf den schneebedeckten Gipfeln in der
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