Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
schmuggelte ganze Familien mit in sein Bett, um sie nachts unter der Decke zu halten und mit ihnen zu reden, während er wartete, bis Naris kam. Tobin stellte die goldene Tafel zurück, dann reihte er ein halbes Dutzend Stockmännchen auf dem Übungsgelände auf und malte sich aus, selbst unter den Gefährten zu sein. Er öffnete die flache, mit Samt ausgekleidete Schatulle, die sein Vater ihm von einer weiteren Reise mitgebracht hatte, holte die besonderen Leute daraus hervor und ordnete sie auf dem Dach des Palastes an, auf dass sie die Gefährten bei ihren Übungen beobachteten. Diese Leute – die Altvorderen – waren weit aufwendiger gestaltet als die Stockmännchen. Alle Figuren – außer einer – bestanden aus Silber. Sie hatten gemalte Gesichter und Kleider, und jede trug dasselbe winzige Schwert an der Seite, das Schwert von Königin Ghërilain. Auch ihre Namen und Geschichten hatte ihm sein Vater beigebracht. Der silberne Mann war König Thelátimos. Neben ihm in der Schatulle lag seine Tochter, Ghërilain, die Begründerin – die kraft der goldenen Worte des Orakels zur Königin von Skala gekrönt wurde. Nach Ghërilain folgte Königin Tam í r, die von ihrem Bruder, der selbst König werden sollte, vergiftet wurde, dann eine Agnalain und eine weitere Ghërilain. Die Namen und Reihenfolge der nächsten sechs brachte Tobin immer noch durcheinander. Nach ihnen kam Großmama Agnalain, die Zweite. Tobins Lieblingsfiguren waren die erste und die letzte Königin: Die erste Ghërilain trug die prächtigste Krone, Großmama Agnalain den am schönsten bemalten Umhang.
Die letzte Figur in der Schatulle war ein aus Holz geschnitzter Mann. Er wies einen schwarzen Bart wie Tobins Vater und eine Krone auf, und er besaß zwei Namen: ›dein Onkel Erius‹ und ›der regierende König‹.
Tobin drehte den König in den Händen. Diese Figur zerbrach der Dämon gerne. Oft stand das kleine Holzmännchen auf dem Dach des Palastes oder lag an seinem Platz in der Schatulle, und plötzlich flog der Kopf davon, oder der Körper wurde in der Mitte entzweit. Nach vielerlei Flickerei war der Onkel völlig missgestaltet.
Tobin seufzte abermals und legte alle Figuren behutsam zurück in die Schatulle. An jenem Tag vermochte nicht einmal die Stadt, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er drehte sich zurück, starrte auf die Tür und wünschte sich mit aller Kraft, sie möge sich öffnen. Nari hatte das Zimmer vor einer Ewigkeit betreten! Als er die Anspannung schließlich nicht mehr ertragen konnte, schlich er über den Gang, um zu lauschen.
Die Binsen, die den Boden bedeckten, waren alt und knirschten unter seinen Pantoffeln, so vorsichtig er auch auf Zehenspitzen lief. Rasch spähte er den kurzen Gang in beide Richtungen. Zu seiner Linken befand sich die Treppe zum großen Saal. Dort hörte er Hauptmann Tharin und den alten Mynir über etwas lachen. Rechts war die Tür neben jener seines Vaters fest verschlossen, und er hoffte, sie würde es bleiben; seine Mama hatte einen weiteren ihrer schlimmen Anfälle.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er vorerst alleine war, drückte er ein Ohr an die geschnitzte Eichenholztäfelung und lauschte.
»Was kann es schaden, Herr?« Das war Nari. Tobin wippte vor Verzücken vor und zurück. Er hatte sie seit Wochen bedrängt, sich für ihn einzusetzen.
Sein Vater brummte etwas, dann hörte er wieder Nari, diesmal mit ihrer sanften Überredungskunst, die sie manchmal benutzte. »Ich weiß, was sie gesagt hat, Herr, aber bei allem Respekt, er wächst seltsam auf, wenn er so abgekapselt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das möchte!«
Wer ist seltsam ?, fragte sich Tobin. Und wer war diese geheimnisvolle › sie ‹ , die etwas dagegen haben könnte, dass er mit Vater in die Stadt ginge? Schließlich war sein Namenstag. Heute wurde er sieben und somit zweifellos alt genug, um die Reise endlich anzutreten. Außerdem war es nicht weit nach Alestun. Wenn er mit Nari auf dem Dach im Freien aß, konnten sie nach Osten über das Tal schauen und jenseits des Waldrands das Gewirr der Dächer sehen. An kalten Tagen konnte er sogar den von den Herdfeuern in der Stadt aufsteigenden Rauch ausmachen. Dorthin zu reisen, schien ihm ein bescheidener Wunsch für ein Geschenk, und es war alles, was er wollte.
Die Stimmen sprachen weiter, nunmehr jedoch zu leise, um sie zu verstehen.
Bitte! , formten seine Lippen, und er machte ein an die Vier gerichtetes Glückszeichen.
Kalte Finger, die
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