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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Maßen weiter und brachte Gail auch ein Glas. Sie nippte daran. Ihre Lippen waren aufgesprungen, ihre Augen blutunterlaufen und von gelblichem Schorf umringt. Ihre Haut hatte ein bißchen Farbe. Ein paar Minuten später saßen wir matt in der Küche und aßen kraftlos.
    »Was war das denn, zum Teufel?« fragte sie als erstes. Da ich nicht die Kraft hatte, es ihr zu erklären, schüttelte ich nur den Kopf. Ich schälte eine Orange und gab ihr die Hälfte ab. »Wir sollten einen Arzt holen«, sagte sie. Aber ich wußte, daß wir das nicht tun würden. Ich empfing bereits Botschaften; es ließ sich nicht länger leugnen, daß jedes Gefühl von Freiheit, das wir hatten, eine Illusion war.
    Am Anfang waren die Botschaften simpel. Erinnerungen an Befehle manifestierten sich statt der Befehle selbst in meinem Kopf. Wir sollten die Wohnung nicht verlassen – ein Gedanke, der für die Herrschenden sehr abstrakt, aber trotzdem unerwünscht zu sein schien und keinen Kontakt mit anderen aufnehmen. Wir durften vorläufig bestimmte Nahrungsmittel essen und Leitungswasser trinken.
    Als sich das Fieber bei uns beiden legte, kamen die Veränderungen schnell und drastisch. Gail und ich wurden fast gleichzeitig bewegungsunfähig. Sie saß am Tisch, ich kniete auf dem Boden. Ich konnte sie gerade noch so eben aus den Augenwinkeln sehen.
    An ihrem Arm bildeten sich Wülste.
    Sie hatten in Vergil gelernt; ihre Taktik in uns war ganz anders. Mich juckte es zwei Stunden lang überall – zwei Stunden in der Hölle –, bevor ihnen der Durchbruch gelang und sie mich fanden. Die Anstrengung von Generationen – nach ihrem Zeitmaßstab – zahlte sich aus, und sie kommunizierten reibungslos und direkt mit dieser riesigen, unbeholfenen Intelligenz, die einst ihr Universum beherrscht hatte.
    Sie waren nicht grausam. Als ihnen klar wurde, was Unbehagen bedeutete und wie unerwünscht es war, arbeiteten sie daran, es zu lindern. Dabei überspannten sie den Bogen. Eine weitere Stunde schwamm ich in einem Meer der Glückseligkeit, ohne jeden Kontakt mit ihnen.
    Als der nächste Morgen dämmerte, wurden wir freigegeben und durften uns wieder bewegen; vor allem, um ins Bad zu gehen. Es gab gewisse Abfallstoffe, mit denen sie nichts anfangen konnten. Ich entleerte diese – mein Urin war purpurrot –, und Gail tat es gleich nach mir. Wir sahen uns mit leerem Blick an. Dann brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. »Reden sie mit dir?« fragte sie. Ich nickte. »Dann bin ich also nicht verrückt.«
    In den nächsten zwölf Stunden schien die Kontrolle auf einigen Ebenen nachzulassen. Während dieser Zeit gelang es mir, den größten Teil dieses Manuskripts niederzuschreiben. Ich vermute, daß in meinem Innern ein weiterer Krieg stattfand. Gail konnte sich wie zuvor in Grenzen bewegen, aber mehr auch nicht.
    Als die Kontrolle wieder umfassend wurde, bekamen wir den Befehl, einander zu umarmen. Wir zögerten nicht.
    »Eddie…« flüsterte sie. Mein Name war der letzte Laut, den ich je von draußen hörte.
    Wir wuchsen im Stehen zusammen. Innerhalb von Stunden wurden unsere Füße größer und breiteten sich aus. Dann wuchsen Fortsätze zu den Fenstern, um Sonnenlicht aufzunehmen, und zur Küche, um Wasser aus dem Waschbecken zu entnehmen. Bald spannten sich Filamente in alle Ecken des Zimmers; sie kratzten Tünche und Putz von den Wänden und zerrten Stoff und Füllung aus den Möbeln.
    Als der nächste Tag anbrach, war die Transformation vollzogen.
    Ich habe kein klares Bild mehr davon, wie wir aussehen. Ich vermute, daß wir Zellen ähneln – großen, flachen und mit Härchen versehenen Zellen, die sich zielstrebig durch den größten Teil der Wohnung spannen. Wie im Kleinen, so auch im Großen.
    Ich bin gebeten worden, mit der Aufzeichnung fortzufahren, aber das wird bald nicht mehr möglich sein.
    Unsere Intelligenz fluktuiert täglich, während wir von den denkenden Wesen in unserem Innern absorbiert werden, und unsere Individualität verringert sich mit jedem Tag. Wir sind wahrhaftig riesige, unbeholfene Dinosaurier. Unsere Erinnerungen sind von Milliarden der Ihren übernommen und unsere Persönlichkeiten durch das transformierte Blut verbreitet worden.
    Bald wird es keine Notwendigkeit für eine Zentralisierung mehr geben.
    Ich bin informiert worden, daß die Rohrleitungen bereits befallen sind. Überall im Haus werden Menschen umgewandelt.
    Innerhalb von Wochen nach der alten Zeitrechnung werden wir in großer Zahl die Seen, Flüsse und

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