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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Belle Parkhursts Establishment zu gehen, ängstigte ihn, aber er erinnerte sich an das, was sein Vater ihm eine Woche vor seinem Tod gesagte hatte. »Oliver, wenn ich gegangen bin – das wird bald sein, du weißt es… Yolanda ist intelligent wie eine Schüssel Cornflakes und deine Brüder… nun, ich will nett sein und nur sagen, daß deine Mama dich brauchen wird. Du mußt dich als verläßlich erweisen, so daß du ihr eine Stütze bist.«
    Damals waren die Babys noch nicht geboren.
    »Welchen Zug hat sie genommen?«
    »Den nach Snowside«, sagte Mrs. Diamond Freeland. »Aber sie muß in Sunside ausgestiegen sein. Das ist die Dreiunddreißig.«
    »Es wird Nacht«, sagte Oliver.
    Yolanda schnaufte und wischte sich die Augen. Davongekommen. »Du gehst?«
    »Muß wohl«, sagte Oliver. »Es geht um Mama.«
    Mrs. Diamond Freeland sagte: »Ich glaube, diese Hure hat etwas vor.«
     
    Auf der Grenze zwischen Dämmerung und Dunkelheit, unterirdisch, wo es keinen Unterschied hätte machen sollen, leerte sich die Metro von Tagespassagieren und füllte sich mit denen der Nacht.
    Manchmal fuhren die Tagleute in dichtgedrängten Gruppen mit der Nachtmetro, aber nicht, wenn sie es vermeiden konnten. Die Nachtmetro war dazu da, um die Verlorenen oder den menschlichen Abschaum zu transportieren. Jeder, der sich schämte oder Angst hatte, tagsüber herauszukommen, kam nachts heraus. Die Nachtmetro transportierte auch die Nuller – Leute, die einfach ihre Leben lebten. Starben sie, konnte sich niemand mehr an sie erinnern. Nachtmetro – besonders in späten Stunden – war keine empfehlenswerte Art zu reisen, aber für Oliver war es der schnellste Weg von Sleepside nach Sunside. Er mußte so früh wie möglich los, um zu Mama zu gelangen.
    Oliver stieg die vier Absätze der Betontreppe hinab und knirschte angesichts der Gefahr, in der er sich befand, mit den Zähnen. Am Fuß der Stufen hielt er inne und lockerte seine vor Furcht verkrampften Rückenmuskeln und Nerven. »Es ist wegen Mama; wegen Mama. Niemand außer mir kann ihr helfen.« Er ließ die bronzene Katzenkopfmünze in das Drehkreuz fallen, klapperte hindurch und überquerte die verlassene Plattform. Lediglich zwei unbestimmbare Gestalten, die in schwere Umhänge gehüllt waren, obwohl es ein warmer Abend war, warteten auf der Bahnseite. Oliver behielt sie im Auge und ging auf dem schmutzigen, von Füßen abgewetzten Beton in Form einer Acht vor und zurück und spähte nervös auf die Nässe und den Ruß unter den Schienen hinab. Hinter ihm, auf der schmutzigen Fliesenwand der Station, hing das Goldmosaik einer Trompete und der Zahl Sieben. Die Trompete für Leute, die nicht lesen konnten, um anzuzeigen, daß sie aussteigen mußten. Alle Stationen in Sleepside hatten Musikinstrumente.
    Die Nachtmetro wurde von einer anderen Mannschaft betrieben als die Tagmetro. Sein Zug kam an, sauber, glatt und silbern, ohne einen Tupfen Graffiti oder einen getrübten Flecken. Oliver erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Fahrer unter dem SLEEPSIDE/CHASTE RIVER/SUNSIDE-46TH-Schild, das das Ziel angab. Der Fahrer trug oder besaß einen Stierkopf und hatte ein Paar langer schimmernder Scheren bei sich, die an seinem Sam-Browne-Gürtel befestigt waren. Oliver trat durch die geöffnete Tür und ergriff einen glatten Haltegriff, obwohl die Sitze zum größten Teil unbesetzt waren. Wenn man stand, konnte man schnell weglaufen.
    Es waren vier Leute im Wagen: zwei Frauen – eine jung, nicht hübsch oder sehr lebendig aussehend; die andere war alt, hatte trübe Augen und eine mit Gänseblümchen bedruckte Plastikeinkaufstasche bei sich – und zwei Männer, beide blond und stämmig, gekleidet in Geschäftsanzüge mit glänzenden Ellbogen. Keiner sah den anderen an. Die Türen schlossen sich, und der Zug rollte an, beschleunigte, bis der Lärm seiner Räder auf den Schienen alle anderen Geräusche übertönte und beinahe auch alle Gedanken.
    Es gab mehr tote Stationen als intakte und beleuchtete. Die Nachtmetro hatte nur wenig Stationen mit der Tagmetro gemein. Die meisten Stationen waren abgeschaltet, aber die einzigen Leute, die es dort noch gab, würden sich sowieso nicht im hellen Licht zeigen. Oliver versuchte nicht hinzusehen, seine Augen auf die wenigen gerichtet zu halten, die mit ihm im Wagen waren. Aber ab und zu konnte er sich nicht zurückhalten und spähte hinaus. Jenseits von X-Balken und Barrikaden huschten einzelne orangefarbene Lampen und zerbrochene Fliesenwände vorüber,

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