Tangenten
öffnete die Tür und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, so außer Atem, daß er nicht sprechen konnte.
Die Wohnung war in Aufruhr. Yolanda, dünn wie eine Stange, stand in der Küchentür, rang ihre großen Hände und jammerte. Die zwei Babys saßen mit raschelnden Windeln und ihren Fäusten im Mund in der Diele. Mrs. Diamond Freeland, die Witwe aus der Nachbarschaft, hastete in nutzlosem Bibbern hin und her. Irgend etwas stimmte nicht.
»Was ist los?« fragte er Yolanda mit dem ersten Atem, der ihm zur Verfügung stand. Sie stöhnte nur und schüttelte den Kopf. »Wo sind Reggie und Denver?« Sie schüttelte den Kopf weniger nachdrücklich, was hieß, daß sie nicht daheim waren. »Wo ist Mama?« Daraufhin wurde Yolanda hysterisch. Sie fiel zurück gegen die Wand, die Fäuste gegen den Mund gepreßt, Tränen in den Augen. »Ist was mit Mama passiert?«
»Deine Mama ist in die Oberstadt gegangen«, sagte Mrs. Diamond Freeland, die plattfüßig vor Oliver stand; ihr blumenbedrucktes Kleid dehnte sich über ihrem fülligen Leib. »Was willst du unternehmen? Du bist ihr Sohn.«
»Wohin in der Oberstadt?« fragte Oliver und versuchte, seine zitternde Stimme zu beherrschen. Er wollte jeden in der Wohnung schlagen. Er war ängstlich, und sie waren ihm überhaupt keine Hilfe.
»Sie i-ist ei-einkaufen gegangen!« jammerte Yolanda. »Sie hat heute ihren Scheck bekommen, und es ist Weihnachten, und sie ist fort, um den Babys neue Sachen und was zum Essen zu holen.«
Olivers Hände verkrampften sich. Mama hatte ihn gefragt, was er sich zu Weihnachten wünsche und er hatte gesagt: »Nichts, Mama. Wirklich nichts.« Sie hatte ihn gescholten, gesagt, daß alles gut sein würde, wenn der Scheck käme. Wozu wäre Weihnachten gut, wenn sie nicht kleine Besonderheiten für jedes ihrer Kinder finden könne? »In Ordnung«, hatte er gesagt. »Ich würde gern Notenblätter haben. So etwas hatte ich noch nie.«
»Sie muß an der falschen Haltestelle ausgestiegen sein«, sagte Mrs. Diamond Freeland, wobei sie Oliver aus den Winkeln ihrer großen Augen anstarrte. »Das ist alles, was ich mir vorstellen kann.«
»Was ist passiert?«
Yolanda zog einen Brief aus ihrer Bluse und gab ihn ihm. Auf einem phantasievollen purpurnen Papier mit einem feinen Blumendekor an den Rändern stand eine unterzeichnete, handgeschriebene Mitteilung in sehr hübscher goldener Füllfederhaltertinte. Er las sie sorgfältig. Dann las er sie noch einmal.
An die Joneses.
Ihre Mama ist in der Oberstadt in meiner Obhut. Sie hatte sich verirrt, und ich versuchte, ihr zu helfen, aber sie stahl etwas, das für mich sehr wertvoll ist, sie aber nicht haben soll. Sie sagt, Sie kämen sie abholen. Mit ›Sie‹ meint sie ihren jüngsten Sohn Oliver Jones, und wenn nicht ihn, dann Yolanda Jones, ihre älteste Tochter. Einer von beiden bleibt zum Austausch gegen Ihre Mama hier, der andere muß hierbleiben, um für mich zu arbeiten.
Miss Belle Parkhurst
969 33 rd Street
»Wer ist sie, und warum hat sie Mama?« fragte Oliver.
»Ich gehe nicht!« schrie Yolanda.
»Sei still«, sagte Mrs. Diamond Freeland. »Sie ist diese Hure. Sie ist diese Oberstadt-Hure, die das größte Haus dort leitet.«
Oliver blickte ungläubig von Gesicht zu Gesicht.
»Eure Mama muß die falsche Haltestelle erwischt und sich verlaufen haben«, wiederholte Mrs. Diamond Freeland. »Nur so kann ich es mir vorstellen. Sie ging zum Hurenhaus und bekam Schwierigkeiten.«
»Ich gehe nicht!« sagte Yolanda. Sie vermied Olivers Blick. »Du weißt, was sie mich tun läßt.«
»Ja«, sagte Oliver leise. »Aber was läßt sie mich tun?«
Reggie und Denver, erfuhr er von Mrs. Diamonds Freeland, waren nach Hause gekommen, bevor die Nachricht in Empfang genommen wurde. Sie gingen gerade, als die Bote pfeifend im Hur ankam. Oliver seufzte. Seine Brüder waren beinahe nie daheim; sie dachten, sie könnten Mama hinters Licht führen, aber dem war nicht so. Mama wußte, wer kommen und nach ihr sehen würde, wenn sie in Schwierigkeiten steckte.
Reggie und Denver hielten sich für die heißesten Burschen in der Straße. Sie behaupteten, überall in Sleepside und Snowside Frauen zu haben. Oliver war beinahe zu schüchtern, um überhaupt eine Frau anzusprechen. Er war klein, schmächtig und beinahe hübsch, und für seine Größe beachtlich stark. Oliver war nie in seinem Leben einem ehrlichen und lohnenden Kampf ausgewichen, hatte aber auch nie einen angefangen.
Der Gedanke, zu Miss
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