Tannöd
Schachtel lag es. Ganz genau kann er sich erinnern. An das
Geschenkpapier, in das die Schachtel eingewickelt war. Ein
dünnes Papier mit Blumendruck, bunte Gartenblumen. Das
Päckchen verschnürt, mit einer roten Schleife. Vor lauter
Aufregung zerriss er das Papier. Eine braune Pappschachtel kam
darunter zum Vorschein. Seine Hände zitterten vor Erregung und
Freude, als er die Schachtel öffnete. Da lag es, ein
Taschenmesser. Sein Taschenmesser. Voller Stolz trug er das Messer
ab jenem Tage immer bei sich. Es war sein wertvollster
Besitz.
Nicht einer der anderen Jungen aus
dem Ort hatte ein solches Messer. Er spürte es immer, das gute
Gefühl, das er hatte, wenn er das Messer in die Hand nahm oder
auch nur bei sich trug. Gerne und oft hielt er es in der Hand,
ließ es von einer in die andere gleiten. Es gab ihm
Sicherheit. Ja, Sicherheit.
Mit den Jahren nutzte sich das
Messer durch den Gebrauch ab. Das Gefühl aber blieb. Und nun,
er sucht das Messer schon den ganzen Tag. Wann hatte er es das
letzte Mal benutzt? Wo hatte er es liegen lassen?
Er durchlebt in seinen Gedanken
den letzten Tag noch einmal. Langsam, wie aus dem Nebel, taucht ein
Bild vor seinen Augen auf. Er sieht sich selbst, wie er mit dem
Messer in der Hand ein Stück Rauchfleisch abschneidet. Sieht
sich selbst dabei zu, wie er das Taschenmesser neben den Teller mit
dem Fleisch legt. Er spürt die Unruhe, die langsam in ihm
hochsteigt. Sein Herz schlägt schnell, schlägt bis zum
Hals. Er hat das Messer nicht eingesteckt. Er war sich sicher. Er
hat das Messer liegen lassen. Sein Messer. Sein Messer liegt in der
Speisekammer neben dem Rauchfleisch. Er sieht es ganz deutlich vor
sich liegen. Er müsste nur danach greifen.
Panik erfasst ihn. Er muss ins
Haus. Er muss das Messer, sein Messer, holen. Er kann nicht warten
bis zum Abend, kann nicht warten, bis die Dunkelheit hereinbricht.
Das dauert noch Stunden, zu lange. Bis zum Abend kann viel
geschehen.
Warum dachte er heute Morgen nicht
daran? Er versorgte das Vieh im Stall, ist in Eile gewesen. Er ist
fortgegangen, ohne zu prüfen, ob wieder alles an seinem
rechten Platz lag. Das ist der Fehler gewesen. Warum ist es ihm
erst jetzt aufgefallen. Es spielt keine Rolle.
Er hat keine andere
Möglichkeit, er muss ins Haus. Am helllichten Tag muss er, die
Gefahr auf sich nehmend, ins Haus.
Er sieht das Fahrrad an einen
Obstbaum gelehnt. Sieht die offene Tür des
Maschinenhäuschens. Er hört eine Person summen, pfeifen.
Vorsichtig nähert er sich dem Häuschen. Er lugt hinein.
Der Mann ist mit der Reparatur der Futterschneidemaschine so
beschäftigt, dass er ihn nicht bemerkt. Von seinem Platz neben
der Tür beobachtet er den Unbekannten. Dem fällt etwas
aus der Hand, fällt zu Boden, rollt über den Boden in die
Wassergrube. Der Fremde flucht, blickt suchend um sich. Klettert
schließlich in die Wassergrube.
Dagmar Tochter des Johann Sterzer, 20 Jahre
Am Dienstag um halb drei war's.
Meine Mutter und ich sind gerade raus in den Garten. Die Beete
herrichten.
Wir sind kaum im Garten, radelt
der Monteur vom Landmaschinenvertrieb vorbei. Den kenne ich, der
war schon einmal bei uns. Hat eine der Maschinen
repariert.
Direkt an unserem Gartenzaun
bremste er ab. Blieb stehen, steigt aber nicht vom Rad ab. Er hat
uns nur vom Zaun her zugerufen, wenn wir den Danner sehen, sollen
wir ihm sagen, der Motor läuft wieder. Fünf Stunden
hätte er gebraucht, die Rechnung schickt er mit der
Post.
Der Monteur ist gleich wieder auf
sein Rad gestiegen und weitergefahren.
Meine Mutter und ich wunderten uns
noch, dass beim Danner keiner auf dem Hof sein sollte. Haben uns
aber nicht weiter darum gekümmert. Kurze Zeit später habe
ich bereits nicht mehr daran gedacht. Ich hatte es wieder
vergessen.
Ungefähr eine Stunde nach dem
Monteur ist der Hauer Hansel aufgetaucht. Ich war mit meiner Mutter
immer noch im Garten.
Mit den Händen hat der Hansel
rumgefuchtelt. Wie wild hat er mit den Armen in der Luft gerudert.
Ganz aufgeregt war der. Schon von weitem hat er gerufen, ob der
Vater zu Hause sei, beim Danner, da ist was passiert.
Genau in dem Augenblick ist der
Vater aus der Haustür raus. Er hatte den Hansel schon durchs
Fenster gesehen.
Der war noch nicht bei uns am Haus
angekommen, da hat er wieder gerufen. Sein Vater, der Hauer,
hätte ihn geschickt, weil beim Danner, da stimmt was nicht.
»Sterzer, du sollst mit rüber zum Tannöder auf den
Hof.«
Allein wollten sie da nicht
nachschauen. Seit dem Samstag
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