Tannöd
Großmutter erzählt. »In
schwarze Mäntel gehüllt. Kapuzen tief ins Gesicht
gezogen. Die Augen glutrot, jagt sie dahin. Wenn einer so
unvorsichtig ist, sich in einer solchen Nacht draußen
herumzutreiben, packt ihn die ›wilde Jagd‹. Im
Galopp«, hat die Großmutter gesagt. »Einfach so,
schnapp!«
Dabei machte sie mit ihrer Hand
eine Bewegung, als ob sie selbst etwas packen und wegwischen
würde.
»Schnapp! Und sie heben den
armen Teufel hoch in die Luft und reißen ihn mit sich fort.
Fort, hoch hinauf zu den Wolken, in den Himmel empor reißen
sie ihn. Er muss mit dem Sturm mitziehen. Sie lässt ihn nicht
mehr los und johlt und lacht ganz höhnisch.
Ho, ho, ho«, lachte da die
Oma mit einer tiefen Stimme.
Marianne konnte es sich richtig
vorstellen, wie die »wilde Jagd« einen packt,
hochreißt und lacht. »Oma, was passiert dann?«,
fragte da die Marianne. »Kommt der denn nie mehr
herunter?« »Doch, doch«, antwortete die
Großmutter. »Er kommt schon wieder herunter manchmal,
manchmal nicht! Die ›wilde Jagd‹ schleift den armen
Kerl mit sich, so lange es ihr Spaß macht. Manchmal setzt sie
ihn wieder ganz sachte ab, nachdem sie ihren Schabernack mit ihm
getrieben hat. Manchmal. Aber meistens wird der arme Kerl am
anderen Morgen irgendwo gefunden mit zerschlagenen Gliedern. Der
ganze Körper zerschunden, zerschlagen. Manch einer ist nimmer
gesehen worden. Den hat die ›wilde Jagd‹ gleich beim
Teufel abgeliefert.«
An die Geschichte von der
»wilden Jagd« muss sie nun die ganze Zeit denken. Nie
würde sie bei so einem Wetter das Haus verlassen. Die
»wilde Jagd« soll sie nicht packen. Sie nicht!
Sie liegt lange wach. Wie lange
weiß sie nicht. Ihr kleiner Bruder liegt im gleichen Raum. Die
Betten stehen so, dass sie fast Kopf an Kopf liegen. Sie in ihrem
Bett und er in seinem Kinderbettchen. Sie hört seinen Atem
ruhig und gleichmäßig. So nah liegen sie beieinander. Er
atmet ein und aus, Manchmal, wenn sie nicht schlafen kann, lauscht
sie diesem Geräusch in der Nacht, versucht, sich seinem Atem
anzupassen, atmet ein, wenn er einatmet, und atmet aus, wenn er
ausatmet.
Manchmal hilft das, und sie wird
auch müde und schläft selbst ein. Aber heute gelingt ihr
das nicht. Sie liegt wach.
Soll sie ihr Bett verlassen? Der
Großvater wird wieder fürchterlich schimpfen. Er mag es
nicht, wenn sie in der Nacht aufsteht und nach der Mutter oder der
Großmutter ruft.
»Du bist alt genug. Du kannst
alleine schlafen«, sagt er dann und schickt sie wieder in ihr
Bett zurück. Unter der Tür schimmert ein Lichtstrahl
durch. Schwach, aber sie sieht den Schein des Lichts wie einen
schmalen Streifen.
Es ist also noch jemand wach. Die
Mutter vielleicht? Oder die Großmutter?
Marianne nimmt ihren ganzen Mut
zusammen, sie streckt ihre nackten Füße aus dem Bett. Es
ist kalt im Zimmer. Sie schiebt die Bettdecke beiseite. Ganz
sachte, damit der kleine Bruder nicht aufwacht, schleicht sie sich
auf Zehenspitzen zur Tür. Vorsichtig, damit die Dielenbretter
nicht knarren.
Langsam und behutsam drückt
sie die Türklinke nach unten und öffnet leise die
Tür. Sie schleicht über den Gang hinüber in die
Küche.
In der Küche brennt noch
Licht. Sie setzt sich an das Fenster und blickt hinaus in die
Nacht. Unheimlich ist ihr und sie fängt an zu frösteln in
ihrem leichten Nachthemd.
Da bemerkt sie, dass die Tür
zum Nebenraum noch ein Stück offen steht.
Die Mutter wird noch in den Stall
gegangen sein, denkt sich Marianne. Sie öffnet die Tür
zum Nebenraum ganz. Von dort gelangt man durch eine weitere
Tür in den Gang, der zum Stall und in den Stadel führt.
Sie ruft nach ihrer Mutter. Nach ihrer Großmutter. Aber es
kommt keine Antwort.
Das Mädchen geht durch den
langen, düsteren Futtergang. Sie zögert, bleibt stehen.
Ruft erneut nach ihrer Mutter, nach ihrer Großmutter. Diesmal
etwas lauter. Wieder keine Antwort.
Im Stall sieht sie das Vieh
angebunden, mit Ketten an den eisernen Ringen des Futterbarrens.
Die Leiber der Kühe bewegen sich ruhig. Der Raum ist nur durch
eine Petroleumlampe erleuchtet. Am Ende des Futtergangs sieht
Marianne, dass die Tür zum Stadel offen steht.
Ihre Mutter wird im Stadel sein.
Sie ruft erneut nach der Mutter, wieder ohne Antwort. Sie geht den
Gang weiter entlang in Richtung Stadel. An der Tür bleibt sie
erneut unschlüssig stehen. Keinen Laut vernimmt sie aus dem
Dunkel. Sie atmet tief durch und geht
hinein.
Heilige Maria Magdalena,
bitte
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