Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Miss Kingsley handelte es sich um die Empfangsdame des Flamborough-Hotels in London, eine langjährige Freundin der Familie Willis. Sie war verschwiegen und effizient und besaß eine fast unheimliche Fähigkeit, Informationen über die geheimnisvollsten Menschen herauszufinden. Wenn irgendjemand es schaffte, sich einen Weg durch die Mauern einer verschwiegenen Institution zu bahnen, dann die unglaubliche Miss Kingsley.
»Wäre es allzu gewagt, wenn ich dich bitten würde, dein Gespräch mit Miss Kingsley zu verschieben, bis wir gegessen haben?«, fragte Willis senior. »Ich habe meine Enkel gefüttert, habe aber noch nicht die Gelegenheit gefunden, mich selbst mit Nahrung zu versorgen.«
Mein Jubel über Miss Kingsley wich dem schlechten Gewissen. Ich war so sehr mit den Gedanken an Kit beschäftigt, dass ich meinen Schwiegervater gar nicht gefragt hatte, wie sein Tag verlaufen war, geschweige denn, ob er etwas gegessen hatte.
»In zwanzig Minuten steht das Essen auf dem Tisch«, versprach ich ihm, und als Willis senior Anstalten machte, sich zu erheben, hielt ich ihn zurück. »Bleib sitzen«, ordnete ich an. »Du hast für heute genug getan.«
Für den Rest des Abends widmete ich mich Heim und Herd. Ich kochte ein Abendessen für Willis senior, badete Rob und Will und steckte sie ins Bett. Dann bat ich meinen Schwiegervater, mir in der Küche Gesellschaft zu leisten, während ich eine doppelte Ladung Angel Cookies buk, ein verspäteter Versuch, des Geburtstags meiner Mutter zu gedenken.
Als Willis senior zu Bett ging, war es zu spät für einen Anruf bei Miss Kingsley.
Aber es war noch nicht zu spät, um mit Tante Dimity zu sprechen. Obwohl ich mittlerweile hundemüde war, ging ich ins Arbeitszimmer, zog das blaue Tagebuch aus seiner Nische im Bü cherregal und kuschelte mich in den großen Ledersessel vor dem Kamin.
Ich zuckte zusammen, als das Buch in meinen Händen aufsprang.
Das wird aber auch Zeit . Die vertraute Schrift flog fast unleserlich über die Seite. Ich dachte schon , du hättest mich vergessen . Bist du ins Radcliffe gefahren? Hat man dir erlaubt , den Stromer zu sehen? Hast du etwas Neues über ihn erfahren?
»Sein Name ist Kit Smith«, begann ich und erzählte zum zweiten Mal an diesem Abend, was ich über den Mann im Radcliffe Hospital in Erfahrung gebracht hatte. Als ich geendet hatte, tauchte Dimitys Handschrift wieder auf, dieses Mal in normalem Tempo.
Ich erinnere mich an niemanden namens Kit Smith . Was waren das noch für Orden in dem Beutel?
»Ein DSO, ein DFC, ein Air Force Cross und ein Pathfinder-Abzeichen , unter anderem«, sagte ich. »Warum? Kanntest du jemanden, der im Krieg Bomber geflogen hat?«
Im Februar 1943 wurde ich für eine Weile zur Fliegerstaffel auf einem Stützpunkt in Lincolnshire versetzt . Ich lernte eine Menge Piloten kennen , aber niemanden , der so hoch dekoriert war .
Enttäuscht ließ ich mich in den Sessel sinken.
»Jetzt wissen wir immer noch nicht, warum er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um hierher zu kommen. Julian meinte, es sei nur ein weiterer Beweise für Kits Geisteskrankheit.«
Dann maßt sich Vater Bright ein allzu schnelles Urteil an . Auch wenn wir Kits Gründe für sein Kommen nicht kennen , heißt das nicht , dass er keine hatte . Ich wünschte nur , ich könnte ihn deutlicher vor mir sehen . Deine Beschreibung von ihm ist leider recht vage . Etwa vierzig Jahre , groß , dünn – nun ja , was auch sonst , wenn er an Unterernährung leidet .
Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte Dimity nicht angelogen, aber ich hatte ihr auch nicht wirklich die Wahrheit gesagt. »Das Zimmer war nur schwach beleuchtet«, sagte ich. »Und Kit trug eine Sauerstoffmaske.«
Und da Vater Bright und die Somervilles Kit auch nur mit Bart und langen Haaren gesehen haben , können sie ihn auch kaum besser beschreiben . Du musst ihn dir noch einmal genau anschauen , wenn sie ihm die Maske abgenommen haben . Ich suche derweil in meinem Gedächtnis nach einem Kit Smith , aber ich verlasse mich darauf , dass du ihn mir noch genauer beschreiben wirst .
»Das werde ich«, versprach ich, aber während ich zusah, wie Tante Dimitys Handschrift langsam verblasste, kamen mir Zweifel, ob ich mein Versprechen halten konnte. Ich schloss das blaue Tagebuch. Mein Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem ich Kits Reisetasche bei meiner Rückkehr aus Oxford abgestellt hatte. Ich hatte Julian gebeten, mir die Tasche einstweilen zu überlassen, damit ich mir den Inhalt
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