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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Atherton
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noch einmal genauer anschauen konnte. Mittlerweile schien es, als wäre es mir nicht darum gegangen, Kits Identität herauszufinden, sondern nur darum, etwas um mich zu haben, das ihm gehörte.
    Ich schloss die Augen und sah Kit so deutlich vor mir, dass ich fast seine Wimpern zählen konnte. Ich sah die Falten an seinen Mundwinkeln, die modellierten Wangenknochen, die geschwungenen Lippen und die feine, gerade Nase, jeder Zug in goldenes Licht getaucht. Noch einmal sahen die dunkelblauen Augen zu mir herauf, und sein Lächeln durchbohrte mein Herz.
    Warum hatte ich ihn Tante Dimity nicht genau beschrieben? Warum hatte ich ihr ausgerechnet jene Information vorenthalten, die sie sich am meisten wünschte? Hatte ich befürchtet, ich würde ihn so beschreiben, wie er mir erschienen war?
    Plötzlich glaubte ich in der Ferne das Heulen des Windes zu hören. Ich erzitterte leicht, öffnete die Augen und begutachtete den Efeu vor den Fenstern nach Anzeichen eines nahenden Sturms.
    Doch die Blätter hingen bewegungslos wie ein Scherenschnitt vor dem Glas. Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich ihn durchlüften, fuhr mir energisch mit der Hand durch meine kurzen schwarzen Locken und stellte das Buch wieder ins Regal. Ich war wohl müder, als ich gedacht hatte. Kit war in den Sturm geraten, nicht ich.
    Als ich nach oben ins Schlafzimmer schlich, kam mir der Gedanke, dass die Erinnerung an den heulenden Wind sehr wohl in Kits Träume eindringen konnte. Außerdem kam mir auch der Gedanke, dass meine Gefühle für ihn nicht rein fürsorglicher Natur sein könnten.

9
    ALS ICH DIE dunklen Ringe unter den hellen grauen Augen von Willis senior bemerkte, führte ich seine Erschöpfung auf meine beiden Söhne zurück. Die zwei waren natürlich kleine Engel, aber mit neun Monaten können selbst Engel eine Plage sein.
    Ich beabsichtigte nicht, meinen Schwiegervater wieder solo fliegen zu lassen. Nachdem ich ein paar dringende Telefonate erledigt hatte, setzte ich mich zu ihnen ins Wohnzimmer und nahm meine Doppelrolle als Mutter und Schwiegertochter des Jahres ein.
    Der erste Anruf hatte Dr. Pritchard gegolten, der mir mitteilte, dass Kits Zustand sich verschlechtert hatte. Man hatte ihn wieder stabilisiert, aber er lag noch immer im Koma und war an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Der Arzt beendete seine Schilderung mit den Worten:
    »Aber machen Sie sich keine Sorgen«, worauf ich beinahe mit einem scharfen »Und wie soll das gehen?« geantwortet hätte. Stattdessen dankte ich ihm höflich und legte den Hörer auf.
    Am liebsten wäre ich auf der Stelle an Kits Seite geeilt, wurde mir aber schnell darüber klar, wie närrisch das gewesen wäre. Kit war in guten Händen, und meine Anwesenheit an seinem Bett würde ihn auch nicht schneller gesund machen.
    Ich überlegte kurz, Julian Bright anzurufen, aber dann fiel mir ein, dass er sicherlich schon Bescheid wusste, da er ja, wie Schwester Willoughby mir erzählt hatte, das Radcliffe jeden Morgen besuchte.
    Mein zweiter Anruf galt den Willis in Boston, wo mich der Butler davon unterrichtete, dass Bill sich bereits auf den Weg zur Beerdigung von Hyram Collier gemacht hatte. Ich stellte mir Mrs Collier vor, am Grab ihres Gatten, zitternd vor Kälte, weil ein bitterkalter Wind wehte, und war froh, dass Bill ihr beistand.
    Das dritte Telefonat führte ich mit Miss Kingsley, die meinen Auftrag freudig entgegennahm. Sie versprach mir, mich sofort anzurufen, wenn sie Informationen über Kits Aufenthalt in der Heathermore-Klinik hatte.
    »Sind Sie sicher, dass es Ihnen nicht zu viele Umstände macht?«, fragte ich nach. »Zu dieser Jahreszeit ist im Flamborough doch sicherlich viel zu tun.«
    »Ich kann etwas Ablenkung gebrauchen«, versicherte mir Miss Kingsley. »Wenn ich noch ein einziges Mal ›Der gute König Wenzelaf‹ hören muss, steige ich mit einem Gewehr in der Hand aufs Dach und knalle die Glöckchenschwinger von der Heilsarmee einzeln ab.«
    »Miss Kingsley!«, rief ich fassungslos.
    »Zur Weihnachtszeit in einem Hotel arbeiten
    – da würde selbst ein Heiliger boshaft werden«, stellte Miss Kingsley bitter fest. »Bestätigen Sie mir bitte noch einmal, dass Ihre Weihnachtsfeier stattfindet. Es ist das Einzige, worauf ich mich noch freue.«
    »Sie findet statt«, beruhigte ich sie. »Und ich erwarte Sie, mit Glöckchen …«
    »Nein«, erwiderte sie mit zitternder Stimme.
    »Bitte keine Glöckchen …«
    Nach dem Gespräch mit Miss Kingsley nahm ich Kits Reisetasche mit ins

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