Tante Dimity und der unheimliche Sturm
neben dem Sessel, in dem Jamie gesessen hatte. Augenblicklich fiel mir auf, dass das Album nicht mehr an dem Platz lag, an den Wendy es die Nacht zuvor gelegt hatte.
Ich sah auf den anderen Tischen in der Bibliothek nach und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Buchregale schweifen. Doch das Album war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte es Jamie an seinen Platz im Regal zurückgestellt.
Wenn dem so war, dann würde ich keine
Schwierigkeiten haben, es zu finden. Ich mochte keinen blassen Schimmer davon haben, wie viktorianische Herde funktionierten, aber mit Bü chern kannte ich mich aus.
Zuerst suchte ich die Regale ab, die Jamie und ich inspiziert hatten, dann wandte ich mich einem verglasten Bücherschrank zu, den wir noch nicht geöffnet hatten. In diesem Schrank befanden sich ausschließlich Fotoalben. Alle waren in das gleiche kostbare Maroquin gebunden, und ihre Rücken waren mit den gleichen feinen Etiketten versehen wie das Album mit den Fotos von dem Ball zu Ehren des Kronjubiläums. Die feine Handschrift auf den Etiketten offenbarte das Datum und den Inhalt der darin enthaltenen Fotos: Familienpicknicks, Taufen, Partys, Bälle, Beerdigungsprozessionen, Geburtstage und Feierlichkeiten zu patriotischen Anlässen. Den Etiketten nach zu schließen enthielten die Alben eine faszinierende Bildergeschichte eines Familienlebens im viktorianischen und edwardianischen England. Nichts hätte ich lieber getan, als den Rest der Nacht damit zu verbringen, längst vergessene Zeiten zu ergründen, die in diesen alten Fotos eingefangen waren.
Seufzend musste ich allerdings feststellen, dass das Kronjubiläumsalbum verschwunden war.
Auf einem Regal gähnte eine Lücke, die einzige in der Albensammlung – wohl der Platz, an dem es hätte stehen sollen. Ich öffnete die Glastüren und beugte mich zu dem Platz hinab, um sicherzustellen, dass das Album nicht nach hinten an die Wand gerutscht war. Aber es war nicht da.
Als ich die Glastüren wieder verschloss, spiegelte sich der Schein der Taschenlampe in meinen Augen. Ich blinzelte und fühlte mich einen Moment lang ärgerlich an Wendys zyklopenhaftes Grubenlicht erinnert. Plötzlich hörte ich auf zu blinzeln.
»Wendy«, sagte ich laut und starrte in die gesprenkelte Dunkelheit des Raums, während all meine vagen Vermutungen, die ich von mir weggeschoben hatte, wieder in mein Bewusstsein strömten.
Hatte Wendy das Album mitgenommen? Die Frage schien zunächst absurd, hatte sie doch behauptet, dass sie alte Fotografien abstoßend finde. »Alte Fotografien verursachen mir eine Gänsehaut«, ja, so hatte sie gesagt, aber das könnte sie auch behauptet haben, um Desinteresse zu heucheln.
Hatte sie das Jubiläumsalbum bewusst links liegen lassen, um die Bedeutung herunterzuspielen, die es in Wahrheit für sie hatte? Um später, als Jamie und ich auf unseren Zimmern waren, in die Bibliothek zurückzukommen und es sich zu schnappen? Doch warum wollte sie die Fotos allein betrachten? Warum mochte das Album eine solche Bedeutung für sie haben, es sei denn, sie wusste von der Pfauen-Parure?
»Aber wie um alles in der Welt kann sie über den Schmuck Bescheid wissen?«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich auf den Orientteppich vor dem Kamin trat, um mich in der schwachen Wärme der ersterbenden Glut etwas aufzuwärmen.
Da ich mir sicher war, dass Tante Dimity nicht mit Wendy kommunizierte, konnte ich davon ausgehen, dass Wendy ihre Information von einer konventionelleren Quelle bezogen hatte.
Aber wer, außer Tante Dimity, war in die Geschichte von der angeblich gestohlenen Pfauen-Parure eingeweiht? Nicht einmal Catchpole wusste offensichtlich davon. In Gedanken ließ ich das Gespräch nochmals abspulen, das Wendy und ich in der vergangenen Nacht in der Bibliothek führten, und das Räderwerk der Logik begann sich zu drehen.
Im Verlauf unseres gestelzten Tête-à-Tête hatte Wendy von ihrem Vater gesprochen; er sei ein Scharfschütze gewesen, hatte sie nebenbei fallen lassen. Und ein Scharfschütze war eine militärische Bezeichnung. Was, wenn Wendys Vater Soldat gewesen war, fragte ich mich, und zwar nicht irgendein Soldat, sondern einer der verwundeten Amerikaner, die Lucasta ungerechterweise des Diebstahls bezichtigt hatte? Selbstverständlich hätte er seiner Tochter gegenüber seine Unschuld beteuert. Er hätte ihr erklärt, dass niemand den märchenhaften Schmuck geraubt habe; vielleicht hätte er ihr die beleidigenden Briefe gezeigt, die Lucasta
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