Tante Inge haut ab
tragen.« Sie hakte sich bei Inge unter und schob sie in Richtung Hoteleingang. »Meine Liebe, ich glaube, das ist kein Zufall, dass wir uns hier getroffen haben. Ich spüre eine gewisse Seelenverwandtschaft, wir beide werden in den nächsten Wochen viel Spaß haben. Jetzt packen Sie erst mal in Ruhe aus, und wenn Sie fertig sind, klopfen Sie einfach an meine Tür, und wir trinken ein kleines Begrüßungsschlückchen.«
Das Schlückchen hatte aus einer ganzen Flasche Sekt bestanden. Inge war beeindruckt gewesen, in welcher Geschwindigkeit ihre neue Freundin reden und schlucken konnte. Sie war zehn Jahre jünger als Inge, hatte keine Kinder und war geschiedene Zahnarztgattin.
»Wissen Sie, ich habe zwei Tage pro Woche in Werners Praxis den Empfang gemacht, habe das Haus und den Garten in Schuss gehalten, habe seine Golffreunde bekocht, unsere Urlaube organisiert, und was ist der Dank? Werner geht mit unserer Sprechstundenhilfe ins Bett.«
Inge hatte mitleidig Renates Hand genommen. »Das ist ja schrecklich. Und wie sind Sie damit fertig geworden?«
Renate hatte lässig eine Haarsträhne zurückgesteckt. »Ich habe das Haus und das Auto bekommen, und der Herr Doktor zahlt ordentlich. Das soll er auch tun, schließlich ist alles seine Schuld. Tja, der blutet, der Junge.«
Zufrieden hatte sie gelächelt und sich Sekt nachgeschenkt.
Entschlossen klebte Inge den Briefumschlag zu und steckte das Kuvert in ihre Handtasche. Statt sich in Erinnerungen zu verlieren, sollte sie sich jetzt mal umziehen. Die Kleinigkeiten, die es in der »Sturmhaube« zu essen gab, kosteten bestimmt einiges mehr als Currywurst mit Pommes in Jürgens Eckkneipe. Walter würde einen Anfall kriegen, wenn er das wüsste. Inge streckte ihren Rücken durch und betrachtete sich im Spiegel. Sie stellte sich Walters Gesicht vor.
»Tja, mein Lieber. Dann krieg du mal deinen Anfall, ich bestelle mir nämlich gleich etwas sehr Feines für mindestens dreißig Euro.«
Wenn sie danach noch einen Espresso trank, hätte sie fast 35 Euro auf den Kopf gehauen, sie lachte leise, es fühlte sich gut an. Leider würde Walter das nicht mitbekommen. Sie könnte es aber ihrem Bruder Heinz erzählen. Der regte sich auch immer gern über solche Dinge auf.
Heinz. Er war nicht so schlimm wie Walter, wenn es um Geld ging, aber im Restaurant bekam er es nicht übers Herz, die Rechnung anzugucken. Er ließ sie kommen, steckte dann Charlotte oder seinen Kindern die Brieftasche zu und ging zur Toilette. Man durfte ihm nie sagen, wie viel man bezahlt hatte, sonst bekam er schlechte Laune. Trotzdem ging er gern essen.
Walter hingegen rechnete jede Position nach, kontrollierte die Steuernummer auf dem Beleg und fragte Inge anschließend, was es gekostet hätte, wenn sie selbst gekocht hätten. »Nur so ungefähr, nicht auf den Cent. Unter zwanzig Euro?« Wenn sie nickte, stellte er zufrieden fest: »Na, wir können uns auch mal was leisten. Ich nehme noch ein Pils.«
Wenn sie alle zusammen essen gingen, blieb Heinz immer so lange auf der Toilette, bis Walter den Beleg ordentlich zusammengefaltet in seiner Brieftasche hatte.
Beim Gedanken an Heinz fiel ihr Christine ein. Sie war ihre Lieblingsnichte, auch wenn das Kind langsam Gefahr lief, ihrem Vater immer ähnlicher zu werden. Wie sie sie angeguckt hatte, völlig entsetzt. Aber dieser Johann war nicht unflott, ein bisschen grauhaarig vielleicht, aber was will man mit Ende vierzig schon erwarten? Christine hatte ziemlich abgespannt gewirkt, eine Fernbeziehung in ihrem Alter war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Zwei Haushalte, dauernd diese Fahrten, auch wenn es nur Hamburg-Bremen war. Aber vermutlich war sie froh, doch noch einen Mann gefunden zu haben, nach ihrer Ehepleite. Inge hatte diesen Bernd von Anfang an unpassend gefunden, aber es hatte sie ja keiner gefragt. Er hatte so große Hände gehabt, sah irgendwie komisch aus, redete auch viel dummes Zeug. Und das dauernd. Dieser Johann Thiess hatte wenigstens schöne Augen. Und schöne Hände. Außerdem wirkte er sehr gelassen, das war gut, das würde er brauchen, Christine regte sich so schnell auf, das hatte sie von ihrem Vater. Sie hatten beide keine starken Nerven.
Inge hatte ihre neue weiße Hose angezogen und knöpfte sich den obersten Knopf der roten Bluse wieder auf.
»Du brauchst Farbe, meine Liebe«, hatte Renate in der Boutique in Bad Oeynhausen gesagt, »mach dein Leben bunt.«
Das Haarspray wirbelte durch die Luft und ließ die Frisur glänzen. Inge
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