Tante Inge haut ab
und Du mir die Augen geöffnet hast. Wie ich Dir geschworen habe: Ich sitze nicht die nächsten zwanzig Jahre neben Walter auf dem Sofa, gucke Sportschau und Volksmusik und esse Leberwurstschnittchen mit Gürkchen. Ich nicht!
Stattdessen spaziere ich jetzt in die »Sturmhaube« und bestelle mir ein feines Mittagessen. Das brauche ich auch, bevor ich zu meinem Bruder und meiner Schwägerin fahre.
Übrigens habe ich meine Patentochter Christine hier getroffen. Sie hat einen neuen Freund. Beide Mitte Vierzig und knutschen auf dem Bahnsteig. Man muss sich wundern, jetzt fängt die wieder mit dem Blödsinn an. Sie war doch so glücklich geschieden.
Also, liebe Renate, ich halte Dich auf dem Laufenden.
Mit fröhlichen Grüßen, Deine Inge
PS: Ach ja, ich habe auf der Fahrt den Hut getragen, den Du mir geschenkt hast, der soll mir Glück bringen.
Inge überflog den Brief ein letztes Mal, bevor sie ihn faltete und in den adressierten Umschlag schob. Sie nickte zufrieden und schraubte ihren Füllfederhalter zu. Er war ein Geschenk von Walter zu ihrem sechzigsten Geburtstag, ein sehr elegantes Stück, mit Gravur. Damals hatte sie sich sehr darüber gefreut, aber da hatte sie Walter auch noch nicht richtig durchschaut. Renate war entsetzt, als sie ihn ihr gezeigt hatte.
»Ein Füllfederhalter. Na, großartig! Das ist Bürobedarf, und dein Mann hat ihn garantiert von der Steuer abgesetzt. Du hättest einen Ring bekommen sollen. Oder eine schöne Reise. Aber Bürobedarf? Nein, meine Liebe, da hast du was Besseres verdient.«
Inge schrieb aber furchtbar gern mit diesem Füller, deswegen fand sie das Geschenk auch nach vier Jahren noch schön. Seufzend hatte Renate erwidert, dass sie wenigstens nicht vergessen sollte, welche Demütigung er darstellte.
Renate. Inge klebte eine Briefmarke auf den Brief und kontrollierte die Adresse. Sie waren Zimmernachbarinnen im Kurhotel in Bad Oeynhausen gewesen. Gleich am ersten Tag waren sie ins Gespräch gekommen, auf dem Parkplatz, wo Inge Walter nachwinkte, der darauf bestanden hatte, sie hinzubringen.
Ihr war schon klar, dass Walters Fürsorglichkeit auch damit zusammenhing, dass Pia ihren Audi 'IT bei ihren Eltern abgestellt hatte, bevor sie mit ihrem Freund in den Urlaub flog. Walter hatte seine Tochter darauf aufmerksam gemacht, dass so ein Wagen auch mal bewegt werden müsse. Pia hatte ihm etwas zögernd die Schlüssel und die Papiere überlassen. »Aber nicht so weit, Papa, und nicht so ruppig schalten, okay? Und kein Diesel tanken, das ist ein Benziner.« Natürlich hatte er ihr daraufhin einen Vortrag über irgendwelche Steuernachteile gehalten, aber das war Pia gewohnt.
Während Inge ihrem Mann hinterhersah, der auch noch das Verdeck geöffnet hatte und sein graues Haar im Fahrtwind wehen ließ, hatte sich Renate neben sie gestellt.
»Schöner Wagen.«
»Ja«, antwortete Inge höflich, während sie zusammenzuckte, weil sie mehrmals das Krachen des Getriebes hörte, »ein Audi.«
Sie drehte sich zu Renate und vergaß sofort, was sie noch sagen wollte. Renate war stattlich. Zumindest war das der Ausdruck, der Inge als Erstes einfiel. Sie war groß (mindestens 1,8o Meter), sehr weiblich (80 Kilo, großer Busen), rothaarig (sicherlich gefärbt, guter Friseur), hatte ihre langen Haare kunstvoll hochgesteckt (sehr unordentlich, war aber beabsichtigt), trug ein dunkelrotes Kleid mit silbernen Applikationen (mehr ein überdimensionaler Kaftan) und glitzerte in der Sonne (Indianerschmuck). Sprachlos starrte Inge sie eine Weile an, riss sich dann zusammen und streckte ihr die Hand entgegen.
»Guten Tag, mein Name ist Inge Müller. Wohnen Sie auch in diesem Hotel? Ich mache wie jedes Jahr hier eine Fastenkur. Wird auch wieder Zeit.« Verlegen lachend kniff sie sich beim letzten Satz in den Hüftspeck, ließ aber sofort wieder los, weil ihr auffiel, dass Renate ungefähr das Doppelte an derselben Stelle hatte. »Also, ich meine ...«
Mit einem letzten Blick auf den abfahrenden Walter beugte sich Renate zu Inge.
»Das war wohl Ihr Gatte, oder? Ich bin Renate von Graf, aber sagen Sie ruhig Renate zu mir. Ich komme auch jedes Jahr hierher. Ein bisschen Yoga, ein bisschen Sauna, was frau halt so macht, um die Seele zum Klingen zu bringen. Im Einklang mit Geist und Körper, um der Welt und den Männern zu trotzen.«
Inges Blick wurde unsicher. »Trotzen? Den Männern?«
Ein Lächeln breitete sich über Renates gepudertes Gesicht. »Ich sehe schon, Sie haben auch Ihr Päckchen zu
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