Tante Julia und der Kunstschreiber
dem Friedhof Presbitero Maestro gab es eine Reihe von Abschnitten aus der Kolonialzeit, deren Register abhanden gekommen waren. Meine Aufgabe bestand darin, herauszufinden, was auf den Steinen jener Gräber stand, und eine Liste der Namen und Daten herzustellen. Das war eine Arbeit, die ich zu jeder Tageszeit verrichten konnte und die nach Akkord bezahlt wurde: 1 Soi pro Leiche. Ich ging abends hin, zwischen den 6-Uhr-Nachrich-ten und El Panamericano. Javier, der dann frei hatte, begleitete mich meistens. Da es Winter war und sehr früh dunkel wurde, lieh uns der Friedhofsdirektor, ein dicker Mann, der erzählte, er sei im Kongreß gewesen und habe die Machtergreifung von acht Präsidenten Perus miterlebt, ein paar Laternen und eine kleine Leiter, damit wir auch lesen konnten, was auf den Grabplatten der oberen Nischen stand. Manchmal, wenn wir uns im Spiel vorstellten, Stimmen, Klagelaute, Kettengerassel zu hören und weiße Figuren zwischen Gräbern zu sehen, bekamen wir tatsächlich Angst. Zwei- oder dreimal wöchentlich ging ich auf den Friedhof und widmete dieser Tätigkeit außerdem jeden Sonntagvormittag. Die anderen Arbeiten waren mehr oder weniger (eher weniger als mehr) literarischer Art. Für die Sonntagsbeilage für »El Comercio« machte ich jede Woche ein Interview mit einem Dichter, Romancier oder Essayisten, eine Kolumne mit dem Titel »Der Mann und sein Werk«. Für die Zeitschrift »Cultura Peruana« schrieb ich monatlich einen Beitrag in einer Spalte, die ich erfunden hatte: »Männer, Bücher und Ideen«. Und schließlich gab ein befreundeter Professor mir den Auftrag, für die Bewerber der Universidad Catölica (obwohl ich Student der Konkurrenz, San Marcos, war) einen Text über Bürgererziehung zu schreiben; jeden Montag mußte ich ein Thema für das Einführungs programm entwickelt haben (es waren sehr verschiedene Themen, ein Spektrum, das alles enthielt, angefangen bei den Symbolen des Vaterlandes über die Fauna und Flora bis zu der Polemik zwischen Indigenisten und Hispa nisten).
Mit diesen Arbeiten (die mir ein wenig das Gefühl gaben, Pedro Camacho nachzueifern) gelang es mir, mein Einkommen zu verdreifachen und es soweit abzurunden, daß zwei Personen davon leben konnten. Bei allen bat ich um Vorschüsse, und so konnte ich meine Schreibmaschine wieder auslösen, die für meine journalistischen Arbeiten unentbehrlich war (obwohl ich viele Artikel in Panamericana schrieb), und auf diese Weise konnte Cousine Nancy auch ein paar Sachen kaufen, um das Apartment etwas aufzuputzen, das die Wirtin mir tatsächlich nach vierzehn Tagen überließ. War das ein glücklicher Morgen, als ich von diesen beiden Zimmerchen mit dem winzigen Bad Besitz nahm! Ich schlief weiter im Haus der Großeltern, denn ich hatte beschlossen, das Apartment an dem Tag einzuweihen, an dem Tante Julia wiederkam, aber ich ging fast jeden Abend hin, um dort Artikel zu schreiben und Totenlisten aufzustellen. Obwohl ich immer etwas zu tun hatte, immer von einem Platz zum anderen mußte, war ich weder müde noch nieder geschlagen, im Gegenteil, ich fühlte mich munter, und ich glaube, ich las sogar soviel wie früher (obgleich das nur in den zahllosen Omnibussen und Colectivos möglich war, die ich täglich benutzen mußte).
Ihrem Versprechen getreu, kam jeden Tag ein Brief von Tante Julia, und die Großmutter übergab ihn mir mit einem lustigen Augenzwinkern und flüsterte: »Von wem mag dieser Brief nur sein, von wem nur?« Ich schrieb ihr genauso oft, es war immer das letzte, was ich jeden Abend tat; manchmal schon schlaftrunken, erzählte ich ihr von meinem bewegten Tageslauf. An den Tagen nach ihrem Abflug traf ich bei den Großeltern, bei Onkel Lucho, bei Tante Olga, auf der Straße meine zahlreichen Verwandten und erfuhr ihre Reaktionen. Sie waren sehr verschieden und einige sogar unerwartet. Onkel Pedro reagierte am schärfsten: er erwiderte meinen Gruß nicht, und nachdem er mich eisig angesehen hatte, drehte er mir den Rücken zu. Tante Jesus vergoß ein paar Tränen und umarmte mich und flüsterte mir mit dramatischer Stimme ins Ohr: »Armes Kerlchen!« Andere taten so, als wäre nichts geschehen; sie waren freundlich zu mir, erwähnten Tante Julia jedoch nicht und verhielten sich so, als wüßten sie nichts von meiner Ehe.
Meinen Vater hatte ich nicht gesehen, aber ich wußte, daß er sich etwas beruhigt hatte, nachdem seine Forderung, daß Tante Julia das Land verlasse, erfüllt worden war. Meine Eltern wohnten
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