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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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die Mittel dagegen gelernt hatte, war (natürlich) das Leben. Wie alle über den Durchschnitt herausragenden Wesen wurde sie von ihren Kollegen, jenen Psychiatern und Psychologen, die (im Gegensatz zu ihr) unfähig waren, Wunder zu vollbringen, viel diskutiert, kritisiert und verbal angegriffen. Dr. Acémila ließ es kalt, daß man sie Zaube rin, Hexe, Verführerin der Verführten, Wahnsinnige und anderes schimpfte. Um zu wissen, daß sie es war, die recht hatte, genügte ihr die Dankbarkeit ihrer freunde, jener Legion Schizophrener, Vatermörder, Paranoiker, Brand stifter, Manisch-Depressiver, Onanierer, Katatoniker, Krimineller, Mystiker und Taubstummer, die, sobald sie durch ihre Hände gegangen waren, sich ihrer Behandlung unterzogen hatten (sie würde vorziehen: ihren Ratschlä gen), als liebenswürdige Väter, gehorsame Söhne, tugend hafte Gattinnen, ehrenhafte Beamte, flüssige Gesprächs partner und pathologisch gesetzestreue Bürger ins Leben zurückgekehrt waren.
    Dr. Schwalb riet Lucho Abril Marroquïn, die Ärztin aufzusuchen, und er selbst – helvetische Schnelligkeit, die außerordentlich pünktliche Uhren hervorgebracht hat- meldete ihn dort an. Mehr resigniert als hoffnungsfroh, stellte sich der Schlaflose zur angegebenen Zeit in dem Gebäude mit den rosafarbenen Mauern ein, das, von einem Garten mit blühenden Büschen umgeben, in dem eleganten Wohnviertel von San Felipe lag, wo sich die Praxis (Tempel, Beichtstuhl, Laboratorium des Geistes) von Lucia Acémila befand. Eine adrette Krankenschwester nahm einige Daten auf und ließ ihn ins Sprechzimmer der Ärztin eintreten. Ein hohes Zimmer, die Borde vollgestopft mit ledergebundenen Büchern, ein Schreibtisch aus Mahagoni, weiche Teppiche und eine mit minzgrünem Samt überzogene Couch. »Ziehen Sie alle Vorurteile aus, die Sie mitbringen, und auch das Jackett und die Krawatte«, sprach ihn Dr. Lucia Acémila mit der entwaffnenden Natürlichkeit der Weisen an und deutete auf die Couch. »Legen Sie sich dorthin auf den Rücken oder auf den Bauch, nicht aus freudianischer Frömmelei, sondern damit Sie bequem liegen. Und jetzt erzählen Sie mir nicht Ihre Träume, und gestehen Sie mir auch nicht, daß Sie in Ihre Mutter verliebt sind, sondern erzählen Sie mir lieber mit der größtmöglichen Genauigkeit, wie es Ihrem Magen geht.« Schüchtern, eine Personenverwechslung fürchtend, wagte der Arzneimittelvertreter, bereits auf dem weichen Diwan liegend, zu flüstern, daß ihn nicht sein Magen, sondern sein Gemüt in dieses Sprechzimmer geführt habe.
    »Sie sind nicht voneinander zu trennen«, wies ihn die Ärztin zurecht. »Ein Magen, der sich pünktlich und vollkommen entleert, ist der Zwillingsbruder eines klaren Geistes und einer wohlgesonnenen Seele. Andererseits gebiert ein voller, fauler, geiziger Magen schlechte Gedanken, säuert den Charakter, fördert Komplexe und verborgene sexuelle Gelüste, die Neigung zum Verbrechen und das Bedürfnis, die exkrementöse Folter an anderen auszulassen.«
    Auf diese Weise belehrt, gestand Lucho Abril Marroquin, daß er gelegentlich an Verdauungsstörungen und Magenverstimmungen leide und daß sein Obulus nicht nur unregelmäßig sei, sondern auch außerordentlich unterschiedlich in Farbe, Menge und sicherlich – er erinnere sich nicht, ihn in den letzten Wochen befühlt zu haben – auch was Konsistenz und Temperatur angehe. Die Ärztin nickte gütig und murmelte: »Das wußte ich« und bestimmte, der junge Mann solle bis auf weiteres jeden Morgen und auf nüchternen Magen ein halbes Dutzend getrockneter Pflaumen essen.
    »Da diese Vorfrage geregelt ist, werden wir nun zu den anderen übergehen«, fügte die Philosophin hinzu. »Sie können mir jetzt erzählen, was Sie haben. Aber ich sage Ihnen im voraus, ich werde Ihnen Ihr Problem nicht abnehmen. Ich werde Ihnen zeigen, es zu lieben, stolz darauf zu sein wie Cervantes auf seinen fehlenden Arm oder Beethoven auf seine Taubheit. Sprechen Sie.«
    Mit der Wortgewandtheit, die er in zehn Jahren des beruflichen Gesprächs mit Ärzten und Apothekern erlernt hatte, faßte Lucho Abril Marroquïn seine Geschichte zusammen, von dem unglücklichen Unfall in Pisco bis zu seinen nächtlichen Albträumen und den apokalyptischen Folgen, die das Drama in seiner Familie gehabt habe. Sich selbst bemitleidend, begann er bei den Schlußkapiteln zu weinen und schloß seinen Bericht mit einem Ausruf, der jeder anderen Person, außer Lucia Acémila, das Herz zerrissen hätte:

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