Tante Julia und der Kunstschreiber
diesem Moment gewesen wäre. War das Kind verletzt oder tot? Er konnte dem keuchenden Polizisten nicht mehr antworten, denn dieser zog, kaum hatte er die Frage gestellt, ein so schreckverzerrtes Gesicht, daß Lucho Abril Marroquin nur noch den Kopf wenden konnte, gerade rechtzeitig, um zu begreifen, daß der Lastwagen, der von der Sierra herunterkam, wie wahnsinnig hupend auf sie zusauste. Er schloß die Augen, ein Donnerschlag riß ihm das kleine Mädchen aus den Armen und hüllte ihn in Dunkelheit mit kleinen Sternen. Er hörte noch den fürchterlichen Lärm, Schreie, das Wehgeheul, während er in einer Verwunderung beinahe mystischer Art verharrte. Viel später erst erfuhr er, daß er überfahren worden war, nicht weil es eine immanente Gerechtigkeit gibt, die sich um die Erfüllung des ausgleichenden Sprichworts »Auge um Auge, Zahn um Zahn« kümmerte, sondern weil bei dem Lastwagen aus den Bergen die Bremsen versagt hatten. Er erfuhr auch, daß der Polizist sofort tot war, das Genick gebrochen, und daß das arme Mädchen – eine wahre Tochter Sophokles' – bei diesem zweiten Unfall (wenn der erste es noch nicht erreicht hatte) nicht nur getötet, sondern auf spektakuläre Weise plattgedrückt worden war, als – Freudenkarneval für den Teufel – das doppelte Hinterrad des Lastwagens über sie hinwegrollte. Aber im Laufe der Jahre sagte sich Lucho Abril Marroquin, daß unter den belehrenden Erfahrungen dieses Tages die nachhaltigste nicht der erste und auch nicht der zweite Unfall gewesen war, sondern das, was hinterher kam. Denn seltsamerweise verlor der Arzneimittelvertreter trotz der Gewalt des Aufpralls (der ihn viele Wochen im Hospital del Empleado festhielt, wo sein von unzähligen Brüchen, Quetschungen, Schnitten und Verrenkungen zerstörter Körper wiederhergestellt wurde) nicht das Bewußtsein oder verlor es nur für ein paar Sekunden. Als er die Augen öffnete, wußte er, daß alles soeben erst geschehen war, denn aus den Hütten, die vor ihm lagen, kamen, immer im Gegenlicht, zehn, zwölf, vielleicht fünfzehn Hosen und Röcke auf ihn zugerannt. Er konnte sich nicht bewegen, spürte aber keinen Schmerz, nur eine erleichterte Ruhe. Er dachte, er müsse nicht mehr denken; er dachte an den Krankenwagen, an Ärzte, an hilfreiche Schwestern. Da waren sie. Sie waren schon gekommen. Er versuchte den Gesichtern, die sich über ihn beugten, zuzulächeln. Aber da begriff er an dem Kitzeln, den Stichen und Stößen, daß sie nicht gekommen waren, um ihm zu helfen. Sie rissen ihm die Uhr ab, steckten ihre Finger in seine Taschen, zerrten ihm die Brieftasche heraus, mit einem Ruck bemächtigten sie sich der Medaille des Herrn von Limpias, die er seit seiner Erstkommunion um den Hals trug. Jetzt, voller Bewunderung für die menschliche Gattung, jetzt versank Lucho Abril Marroquin in tiefe Nacht.
Diese Nacht dauerte mit allen praktischen Folgen ein ganzes Jahr. Zu Anfang schienen die Folgen der Katastrophe nur physischer Art zu sein. Als Lucho Abril Marroquin sein Bewußtsein wiedererlangte, lag er von Kopf bis Fuß verbunden in Lima in einem Kranken hauszimmerchen; zu beiden Seiten seines Bettes standen wie Schutzengel, die dem Gequälten den Frieden wiedergeben, die blonde Landsmännin von Juliette Greco und Dr. Schwalb von den Bayer-Werken und sahen ihn voll Besorgnis an. Tief in dem Rausch, den ihm das Chloroform verursacht hatte, spürte er Freude, und als er die Lippen seiner Gattin auf der Gaze spürte, die seine Stirn bedeckte, liefen Tränen über seine Wangen. Das Flicken der Knochen, das Zurechtrücken der Muskeln und Sehnen an den ihnen entsprechenden Ort, das Schließen und Vernarben der Wunden, also die Wiederherstellung der animalischen Hälfte seiner Person, nahm einige Wochen in Anspruch, die relativ erträglich waren, dank der Vortrefflichkeit der Ärzte, der Hilfsbereitschaft der Krankenschwestern, der magdalenischen Ergebenheit seiner Gattin und der Solidarität der Firma, die sich untadelig zeigte, was Gefühle und Brieftasche anging. Im Hospital del Empleado, er war auf dem Wege der Genesung, erhielt Lucho Abril Marroquin eine erfreuliche Nachricht: die kleine Französin war schwanger, und in sieben Monaten würde sie Mutter seines Kindes sein. Nachdem er das Krankenhaus verlassen und sich wieder in seine Wohnung in San Miguel und in seine Arbeit eingewöhnt hatte, entdeckte man erst die verborgenen komplizierten Verletzungen, die die Unfälle in seinem Gemüt verursacht hatten. Die
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