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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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sein Leben. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Nach der Schule hatte er beschlossen zu arbeiten, weil er zu ungeduldig war, die Universität zu absolvieren. Er war in die Arzneifirma eingetreten und hatte dort ein Examen bestanden. In diesen zehn Jahren hatte er sein Gehalt und seine Position immer weiter verbessert, und seine Arbeit war nicht langweilig. Er zog den Außendienst vor, statt hinter einem Schreibtisch dahinzuvegetieren. Nur war ihm jetzt nicht danach, sein Leben auf Reisen zu verbringen und die zarte Blume Frankreichs in Lima allein zu lassen, in einer Stadt, die, wie jeder weiß, voller Haie ist, die den Sirenen auflauern. Lucho Abril Marroquîn hatte mit seinen Vorgesetzten gesprochen. Man schätzte ihn und hatte ihn ermuntert, noch einige Monate zu reisen, und Anfang des nächsten Jahres wollte man ihm einen Platz in der Provinz geben. Dr. Schwalb, ein wortkarger Schweizer, hatte noch präzisiert: »Eine Stellung, die einer Beförderung gleichkommt.« Lucho Abril Marroquin mußte immer wieder denken, daß man ihm vielleicht die Leitung der Filiale in Trujillo, Arequipa oder Chiclayo übergeben werde. Was wollte er mehr?
    Er fuhr aus der Stadt hinaus auf die Landstraße. Diese Route hatte er so oft in beide Richtungen befahren – im Autobus, im Schnellbus, im Wagen, mit Chauffeur oder ohne –, daß er sie im Schlaf kannte. Das schwarze Asphaltband verlor sich in der Ferne zwischen Dünen und kahlen Hügeln, ohne jenes quecksilbrige Aufblitzen, an dem man Fahrzeuge erkennen konnte. Vor ihm fuhr ein alter, klappriger Lastwagen, und er wollte ihn gerade überholen, als er die Brücke und die Kreuzung sah, wo die Südstrecke sich gabelt und wo jene Landstraße abbiegt, die in die Sierra steigt, zu den bleigrauen Bergen von Castrovirreina. Er beschloß daraufhin – Klugheit des Mannes, der sein Auto liebt und das Gesetz fürchtet –, bis nach der Abzweigung zu warten. Der Lastwagen fuhr nicht schneller als 50 Kilometer pro Stunde, und Lucho Abril Marroquîn verminderte ergeben seine Geschwindigkeit und hielt sich zehn Meter hinter ihm. Er sah die Brücke näher kommen, die Kreuzung, hinfällige Bauten – Getränke kioske, Zigarettenbuden, das Häuschen der Transitkontrollen –, sah Umrisse von Personen, deren Gesichter er im Gegenlicht nicht erkennen konnte, bei den Hütten hin und her gehen.
    Das Mädchen erschien ganz plötzlich, als er gerade über die Brücke gefahren war, und schien unter dem Lastwagen hervorzukommen. In die Erinnerung von Lucho Abril Marroquîn blieb dieses Figürchen für immer eingebrannt, das ganz plötzlich zwischen ihm und der Piste auftauchte, das Gesichtchen erschrocken, die Hände in die Höhe gehoben, und dann wie ein schwerer Stein gegen den Bug des Volkswagens krachte. Es kam alles so unerwartet, daß es ihm erst nach der Katastrophe (dem Beginn der Katastrophe) gelang, zu bremsen und mit dem Wagen auszuweichen. Verblüfft und mit dem merkwürdigen Gefühl, daß irgendetwas Seltsames vorging, spürte er den dumpfen Aufprall des Körpers gegen die Stoßstange und sah ihn hochfliegen, eine Parabel beschreiben und acht bis zehn Meter entfernt niederfallen.
    Jetzt bremste er so abrupt, daß das Steuer ihm gegen die Brust schlug, stieg wie betäubt, kalkweiß und mit einem hartnäckigen Ohrensausen schnell aus dem Volkswagen, rannte, stolperte, dachte, ich bin wie ein Argentinier, ich töte Kinder, erreichte das Kindchen und hob es auf. Es war fünf oder sechs Jahre alt, barfuß und schlecht gekleidet, Gesicht, Hände und Knie waren voller Schmutz. Es blutete nirgendwo sichtbar, hielt aber die Augen geschlossen und schien nicht zu atmen. Lucho Abril Marroquin krümmte sich zusammen wie ein Betrunkener, drehte sich um sich selbst, sah nach rechts, nach links und schrie in die Sandwüste, in den Wind, zu den fernen Wellen: »Einen Krankenwagen, einen Arzt!« Wie im Traum sah er auf der Straße aus der Sierra einen Lastwagen kommen, und vielleicht bemerkte er, daß seine Geschwindigkeit viel zu groß war für ein Fahrzeug, das auf eine Straßenkreuzung zufährt. Aber wenn er das wirklich bemerkt hatte, wurde seine Aufmerksamkeit sofort davon abgelenkt, als er sah, daß ein Polizist von den Hütten her auf ihn zugerannt kam. Keuchend, schwitzend, amtlich fragte der Hüter der Ordnung, das Mädchen ansehend: »Ist sie ohnmächtig oder schon tot?«
    Lucho Abril Marroquin sollte sich den Rest der Jahre, die ihm das Leben noch ließ, fragen, welches wohl die richtige Antwort in

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