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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Schlaflosigkeit war das geringste der Übel, denen er ausgesetzt war. Hellwach verbrachte er die Nächte. In einem Zustand lebhafter Erregung wanderte er durch die dunkle Wohnung, rauchte unablässig und führte abgebrochene wirre Reden, aus denen seine erstaunte Gattin wiederholt das Wort »Herodes« heraushörte. Als die Schlaflosigkeit chemisch mit Schlafmitteln bezwungen war, wurde es noch schlimmer. Abril Marroquîns Schlaf wurde von Albträu men heimgesucht, in denen er sich seine noch ungeborene Tochter zerfetzen sah. Sein unmelodisches Geheul begann seiner Frau Angst einzujagen und führte schließlich dazu, daß sie mit einem Fötus, wahrscheinlich weiblichen Geschlechts, eine Fehlgeburt erlitt. »Die Träume sind in Erfüllung gegangen, ich habe meine eigene Tochter ermordet, ich werde nach Buenos Aires gehen«, wiederholte der wahnhafte Tochtermörder schwermütig Tag und Nacht. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Den schlaflosen oder albtraum-beladenen Nächten folgten schreckliche Tage. Seit seinem Unfall hatte Lucho Abril Marroquin eine Phobie in seinen Eingeweiden gegen alles, was Räder hatte, gegen Fahrzeuge, in die er weder als Fahrer noch als Fahrgast steigen konnte, ohne Schwindelgefühle, Brechanfälle, kalten Schweißausbruch zu bekommen und laut loszuschreien. Alle Versuche, dieses Trauma zu überwinden, waren vergeblich, so daß er schließlich mitten im 20. Jahrhundert wie im Inkareich (eine Gesellschaft ohne Räder) leben mußte. Wenn die Entfernungen, die er zurückzulegen hatte, lediglich in den fünf Kilometern zwischen seiner Wohnung und dem Bayer-Werk bestanden hätten, wäre der Fall nicht besonders ernst gewesen. Für einen so gequälten Geist hätten die zwei Stunden Fußmarsch am Morgen und zwei Stunden Fußmarsch am Abend vielleicht sogar eine beruhigende Funktion gehabt, aber da er ein Arznei mittelvertreter war, dessen Operationsfeld das ausgedehnte Territorium von Peru war, wurde die Räder-Phobie zur Tragödie. Da keinerlei Möglichkeit bestand, das athletische Zeitalter der Träger wiederauferstehen zu lassen, war die berufliche Zukunft von Lucho Abril Marroquin ernsthaft bedroht. Die Firma erbot sich, ihm eine sitzende Arbeit im Büro in Lima zu geben, und obwohl man ihm sein Gehalt nicht kürzte, war die Veränderung vom moralischen und psychologischen Gesichtspunkt her eine Degradierung (er hatte jetzt das Musterlager unter sich). Zu allem Übel kam noch hinzu, daß die kleine Französin, die – eine würdige Nachfahrin der Jungfrau von Orléans – mutig die nervlichen Schäden ihres Gatten erduldet hatte, nun, vor allem nach der Evakuierung des Fötus Abril, auch der Hysterie verfiel. Eine Trennung, bis sich die Zeiten besserten, wurde verabredet, und das Mädchen – Blässe des Morgens und der antarktischen Nächte – reiste nach Frankreich, um im Schloß ihrer Väter Trost zu suchen.
    So ging es Lucho Abril Marroquin ein Jahr nach dem Unfall: verlassen von seiner kleinen Frau, dem Schlaf und der Ruhe, alle Räder hassend, dazu verdammt, durch das Leben zu wandern (strictu sensu) ohne einen anderen Freund als den Kummer. (Der gelbe Volkswagen wurde von Efeu und Spinnweben überwuchert, bis er schließlich verkauft wurde, um die Reise der Blondine nach Frankreich zu bezahlen.) Kollegen und Bekannte flüsterten schon, daß ihm jetzt nur noch der mittelmäßige Weg ins Irrenhaus bleibe oder die spektakuläre Lösung durch Selbstmord, als der junge Mann von der Existenz einer Person erfuhr – Manna, das vom Himmel fällt, Regen auf dürstende Felder –, die weder Priester noch Zauberer war und doch Seelen heilte, die Ärztin Lucfa Acémila.
    Eine überlegene Frau ohne Komplexe, im von der Wissenschaft als ideal angesehenen Alter – Dr. Acémila war 50 Jahre alt und – breite Stirn, Adlernase, durch dringender Blick, von Güte und aufrechter Gesinnung – lebendige Negation ihres Nachnamens (auf den sie stolz war und den sie den Sterblichen wie eine Waffe auf gedruckten Visitenkarten oder auf den Schildern ihrer Sprechstunde hinwarf), jemand, bei dem die Intelligenz ein körperliches Attribut war, etwas, was ihre Patienten (sie zog es vor, sie freunde zu nennen) sehen, hören, riechen konnten. Sie hatte in den großen Zentren der Weisheit – in dem teutonischen Berlin, dem phlegmatischen London, dem sündigen Paris – zahlreiche hervorragende Auszeich nungen bekommen, aber die wichtigste Universität, in der sie all das, was sie über das menschliche Elend und

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