Tante Lisbeth (German Edition)
schaffte ihr auch das Vertrauen von Menschen reiferen Alters; sie besaß nämlich gewisse männliche Eigenschaften. Meistenteils richten sich die Vertraulichkeiten des Menschen eher nach unten als nach oben. In geheimen Angelegenheiten werden Tieferstehende viel öfter zu Vertrauten erwählt als Höherstehende; sie werden zu Mitwissern unserer geheimsten Gedanken und zu Ratgebern bei unsern wichtigsten Überlegungen. Die arme alte Jungfer galt für so abhängig von aller Welt, daß sie wie zu ewiger Stummheit verdammt schien. Sie nannte sich selbst den »Beichtstuhl der Familie«. Nur die Baronin blieb mißtrauisch. Sie konnte gewisse Schlechtigkeiten nicht vergessen, die ihr die Kusine in der gemeinsamen Kinderzeit angetan hatte. Auch aus Schamhaftigkeit mochte Adeline ihren häuslichen Kummer nur Gott allein anvertrauen.
Für Tante Lisbeth hatte das Haus der Baronin seinen alten Glanz bewahrt. Sie stutzte nicht, wie der emporgekommene Crevel, vor dem Elend, das auf den abgenutzten Stuhlpolstern, auf den altersschwachen Vorhängen und der zerschlissenen Seide deutlich geschrieben stand. Es geht einem mit den Möbeln, mit denen man lebt, gerade wie mit einem selbst. Man macht es schließlich wie der Baron. Man schaut sich täglich an und hält sich für ewig jung und unverändert, während die andern längst bemerken, wie sich auf unserem Haupte das Haar chinchillaartig verfärbt, wie sich auf unserer Stirn die Krähenfüße mehren und unser Schmerbauch dick wird wie ein Kürbis. Die Hulotsche Einrichtung leuchtete für Lisbeth für immerdar im bengalischen Feuer der kaiserlichen Glorie.
Mit der Zeit hatte Tante Lisbeth mancherlei recht altjüngferliche Gewohnheiten angenommen. So wollte sie sich der Mode nicht unterwerfen, sondern meinte, die Mode müsse sich nach ihren Angewohnheiten und ihrem veralteten Geschmack richten. Wenn ihr die Baronin einen hübschen neuen Hut oder ein Kleid neueren Schnitts schenkte, so hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als alles nach ihrer Art bei sich zu Hause umzuarbeiten; so verdarb sie jedes Kleid, indem sie daraus ein Kostüm aus der Kaiserzeit oder ein Stück altlothringischer Landestracht modelte. Hüte, die dreißig Franken gekostet hatten, wurden unter ihrer Hand zu Ungetümen. In dieser Beziehung war Lisbeth geradezu bockbeinig. Nur sich selbst gefallen wollte sie, und sie fand sich wirklich reizend. Diese Manie, alles ihrer Altjüngferlichkeit anzupassen, so einheitlich es auch durchgeführt sein mochte, machte sie so lächerlich, daß man es beim besten Willen nicht fertigbrachte, sie zu größeren Festlichkeiten einzuladen.
Der Widerspruchsgeist, das launenhafte eigenbrötlerische Wesen und die wunderliche Wildheit dieses Mädchens, das dank der Vorsorge des Barons viermal eine gute Partie hätte machen können – es traten nacheinander einer seiner Verwaltungsbeamten, ein Major, ein Geschäftsunternehmer und ein Hauptmann a. D. als Bewerber auf –, und das auch einem Posamentenhändler einen Korb gegeben hatte, der dann sehr reich wurde, gaben die Veranlassung zu dem Spitznamen »Wildkatze«, den ihr der Baron im Scherz anhängte. Dieser Spitzname sollte sich zwar nur auf Lisbeths äußerliche Eigenheiten beziehen, aber dieses Mädchen war und blieb für den schärferen Beobachter doch die Verkörperung der bäuerischen Wildheit. Wie sie als Kind der Kusine die Nase hatte abbeißen wollen, so hätte die Gealterte in Anfällen von Eifersucht sie am liebsten gemordet. Nur durch ihre Welt- und Gesetzeskenntnis zähmte Lisbeth die natürliche Wildheit, mit der Bauern wie Wilde rasch vom Gefühl zur Tat übergehen.
Vielleicht besteht allein hierin der Unterschied zwischen dem Natur- und dem Kulturmenschen. Der Barbar hegt nur Gefühle, der zivilisierte Mensch Gefühle und Gedanken. Darum empfängt das Gehirn des Wilden sozusagen nur schwache Eindrücke von außen; er unterliegt völlig den Gefühlen, die in ihm herrschen, während das Herz des zivilisierten Menschen von der Überlegung beeinflußt und verändert wird. Hier wirken tausend Interessen und vielerlei Empfindungen in einer Menschennatur vereint; im Wilden dagegen gedeiht nur ein einziger Gedanke auf einmal. Tante Lisbeth, im Grunde hinterlistig und eine echte wilde Lothringerin, gehörte zu diesem Schlage von Charakteren, die man unter dem Volke häufiger findet, als man denkt, und die uns das Verhalten der Massen in Revolutionszeiten verständlich machen können.
Zu der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt,
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