Tanz der seligen Geister (German Edition)
mit ein wenig absurder und künstlicher Nostalgie, der sie auch über so manches langatmige Familienritual hinwegtrug. Sie tauschten miteinander ein Lächeln, dem es nicht an guten Manieren fehlte und das dennoch eine vertrauliche, amüsierte Verwunderung ausdrückte über dieses sich immer Gleichbleibende bis hin zu der Auswahl der Klavierstücke und dem Belag der Sandwiches; so gestanden sie sich das Unglaubliche ein, die völlig unwirkliche Fortexistenz von Miss Marsalles und ihrer Schwester und ihrer Lebensweise.
Nach dem Klavierspielen kam eine kleine Zeremonie, die immer mit einiger Verlegenheit einherging. Bevor die Kinder in den Garten entfliehen durften – ein Stadtgarten, sehr schmal, aber immerhin ein Garten mit Hecken, Schatten und einem Beet gelber Lilien –, wo ein langer Tisch mit Krepppapier in den Kleinkinderfarben Rosa und Hellblau gedeckt war und die Frau aus der Küche Sandwiches, Eiscreme und hübsch gefärbte, aber geschmacklose Brause auftrug, waren sie gezwungen, eines nach dem anderen aus den Händen von Miss Marsalles eine sorgfältig verpackte und mit einem Band verschnürte Jahresgabe entgegenzunehmen. Nur bei den allernaivsten neuen Schülern löste dieses Geschenk Vorfreude aus. In aller Regel war es ein Buch, und die Frage war nur, wo trieb sie solche Bücher auf? Sie gehörten zu den verstaubten und zerlesenen Bänden, wie sie sich in den Regalen alter Sonntagsschulen, auf Dachböden und in Bücherkellern finden, allerdings waren sie alle ladenneu. Seen und Flüsse des Nordens, Erkenne die Vögel, Mehr Geschichten von Grau-Eule, Die kleinen Missionare. Sie verschenkte auch Bilder: »Cupido bei Tag und bei Nacht«, »Nach dem Bade«, »Die kleinen Bürgerwehrsoldaten«; die meisten davon stellten jeneniedliche kindliche Nacktheit in den Mittelpunkt, die unsere versnobte Prüderie höchst lächerlich und abgeschmackt fand. Sogar die Gesellschaftsspiele, die sie uns schenkte, erwiesen sich als langweilig und unspielbar – mit komplizierten Regeln, die es jedem erlaubten, zu gewinnen.
Die Verlegenheit der Mütter währenddessen rührte nicht so sehr von den Geschenken selbst her, sondern eher von starken Zweifeln, ob Miss Marsalles sie sich überhaupt leisten konnte; es half durchaus nicht, sich in Erinnerung zu rufen, dass sie ihr Honorar nur einmal in zehn Jahren erhöht hatte (und sogar da waren zwei oder drei Mütter abgesprungen). Am Schluss einigten sie sich immer darauf, dass sie andere Einkünfte haben musste. Was offensichtlich war – sonst würde sie nicht in diesem Haus leben. Und außerdem unterrichtete ihre Schwester – nicht mehr an der Schule, denn sie war im Ruhestand, gab aber angeblich noch Nachhilfestunden in Deutsch und Französisch. Zusammen mussten sie genug haben. Wenn man eine Miss Marsalles ist, hat man kaum noch Bedürfnisse, und die Lebenshaltung kostet nicht viel.
Aber nachdem das Haus in Rosedale fort war, nachdem es dem Bungalow in der Bank Street Platz gemacht hatte, fanden diese Gespräche über Miss Marsalles’ finanzielle Lage nicht mehr statt; dieser Aspekt von Miss Marsalles’ Leben war in den Bereich dertraurigen Themen gelangt, über die man nicht redet, weil das herzlos und ungehörig wäre.
»Ich werde sterben, wenn es regnet«, sagt meine Mutter. »Ich werde auf diesem Fest einer tödlichen Depression erliegen, wenn es regnet.« Aber am Tag des Festes regnet es nicht, sondern ist sogar sehr heiß. Es ist ein heißer, staubiger Sommertag, als wir in die Stadt hinunterfahren und uns auf der Suche nach der Bala Street verirren.
Schließlich gelingt es uns, sie zu finden, und sie macht einen besseren Eindruck als erwartet, was hauptsächlich an den Straßenbäumen liegt, denn die anderen Straßen, durch die wir entlang des Bahndamms gefahren sind, waren baumlos und heruntergekommen. Die Häuser hier gehören zu der zweigeteilten Sorte mit einer hölzernen Abtrennung mitten auf der vorderen Veranda, zu der man über einen kleinen Vorplatz und zwei hölzerne Stufen gelangt. Offenbar wohnt Miss Marsalles in einer dieser Haushälften. Sie bestehen aus roten Ziegelsteinen, die Haustüren, die Fensterrahmen und die Veranden sind cremeweiß, grau, ölgrün und gelb gestrichen. Sie sind sauber, gut instand gehalten. Aus dem vorderen Teil des Hauses neben dem von Miss Marsalles ist ein kleiner Laden gemacht worden; auf dem Schild steht: lebensmittel und süsswaren .
Die Tür ist offen. Miss Marsalles steht eingeklemmt zwischen der Tür, dem
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