Inspektor Jury lichtet den Nebel
Prolog
D AS KLEINE M ÄDCHEN im Flanellnachthemd hielt den Hörer in der Hand und wählte bedachtsam die Nummer, die ihre Mutter immer wählte, wenn sie die Vermittlung erreichen wollte.
Die Katze mit dem seidigen Fell zu ihren Füßen machte einen Buckel, gähnte und begann sich zu putzen, während das kleine Mädchen mehrere Brr-brrs lang darauf wartete, daß bei der Vermittlung jemand abnahm. Die scheinen spät aufzustehen, dachte das kleine Mädchen. Mami sagte immer, sie sind faul. Die Kleine sah aus dem Fenster, das mit seinen Butzenscheiben fast unter dem Überstand des reetgedeckten Daches verschwand, sah, wie es im Frühlicht perlmuttfarben zu schimmern begann, während über dem Moor dahinter noch der Morgennebel lag. Zwischen Reet und Fenster hing ein Spinnennetz mit Tautropfen. Es hatte noch immer niemand abgenommen. Sie zählte zehn Brr-brrs , legte auf und griff erneut zum Hörer. Die Katze sprang auf den Tisch, setzte sich in Positur und beobachtete die Spinne, wie sie ihr Netz gewissenhaft fertigspann.
Diese dämliche Vermittlung , sagte ihre Mami immer, wenn sie hier am Tisch saß und wie die Katze durchs Fenster und übers leere Moor blickte, das sich rings um ihren Weiler erstreckte. Der Schleier aus grauem Licht hob sich wie ein zarter Vorhang und gab den Blick auf den fernen Horizont frei, auf eine goldene Linie, so fein gesponnen wie das Spinnennetz.
Es klickte, jemand hatte abgenommen. Die Stimme schien von weit her zu kommen, so als riefe jemand draußen im Moor.
Das kleine Mädchen umklammerte den schwarzen Hörer und bemühte sich, klar und deutlich zu sprechen, denn wenn sie einen bei der Vermittlung nicht mochten, legten sie einfach auf. Das behauptete jedenfalls ihre Mutter. Unverschämt, alle miteinander. Was die sich einbilden! Benehmen sich, als seien sie die Queen höchstpersönlich! Ihre Mutter telefonierte viel, und oft knallte sie den Hörer auf.
«Meine Mami ist tot», sagte sie.
Stille. Hoffentlich würde die Telefonistin nicht auflegen wie die Queen. Nein, das tat sie nicht. Sie bat sie zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte.
«Meine Mami ist tot», sagte das kleine Mädchen geduldig, und dabei fürchtete es sich so sehr. «Sie ist noch keinmal gestorben.»
Jetzt hörte sich die Telefonistin viel näher an – nicht mehr wie von weit her aus dem Moor –, sie klang nett, als sie weiterfragte. «Wie heißt du denn, und wo wohnst du?»
«Ich heiße Tess. Wir wohnen im Moor.» Dieses blöde Moor , sagte ihre Mutter immer. Sie wohnte gar nicht gern hier. «Meine Mami ist in der Küche. Sie ist tot.»
«Nachname?»
«Mulvanney.»
Das weiße Fell der Katze schimmerte im Schein der eben aufgegangenen Sonne. Das Spinnennetz war mit glitzernden Diamanten besetzt, und während Tess sich alle Mühe gab, die Fragen der Telefonistin zu beantworten, zerriß es, und die Spinne – eine klitzekleine, braune Spinne – hing an einem Silberfaden herab. Die Katze zuckte mit dem Schwanz. Die Telefonistin fragte nach der genauen Adresse und Telefonnummer.
«Clerihew Marsh», sagte Tess und gab der Telefonistin die Nummer durch, die auf der Wählscheibe stand. «Sie ist in der Küche und will nicht aufstehen. Ich hab gedacht, sie spielt bloß. Rufen Sie jetzt das Krankenhaus an, und schicken Sie einen Krankenwagen?»
Die Telefonistin war sehr nett, sie sagte, ja, natürlich doch. Und sie meinte, vielleicht wäre ihre Mami ja gar nicht tot, bloß krank, und sie würden einen Arzt schicken. Die Telefonistin bat sie nachdrücklich, sie solle ja nicht auflegen, sie würde jemanden anrufen und sich dann gleich wieder mit ihr unterhalten.
Erneut Stille. Die Katze trug jetzt einen Heiligenschein aus Licht, und die Spinne flickte ihr Netz mit unendlicher Geduld.
Dann meldete sich die Stimme der Telefonistin wieder, und Tess versuchte, sich ihr verständlich zu machen: «Ich hab gedacht, sie spielt bloß mit meinen Fingerfarben. In der Schule haben wir so Farben. Ich hab gedacht, sie hat sich das Rot genommen. Die Küche ist ganz rot. Sie hat sich geschnitten. Sie blutet. Sie hat Blut auf ihrem Kleid und im Haar.»
Die Telefonistin sagte ihr noch einmal schnell, daß sie nicht auflegen solle, sie müsse nur jemanden anrufen. Dann redete sie beschwichtigend auf Tess ein, sprach mit ihr über Schule und dergleichen. Ja, sagte Tess, sie gehe schon in die Schule. Die anderen Kinder ärgerten sie, aber sie sei kein Baby mehr. Sie sei schon fünf. Sie erzählte der Telefonistin von ihrer
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