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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Tisch.
    »So, jetzt könnt ihr sehen, wo ihr seid.«
    Es gab nur einen Raum, der Boden bestand aus Erde mit Brettern, die nicht zusammengenagelt waren, nur hingelegt, damit man darauf gehen konnte, auf einer Art von Plattform stand ein Ofen, ein Tisch war da, ein Sofa, Stühle, sogar ein Küchenschrank, mehrere dicke, sehr schmutzige Decken, wie sie in Schlitten und für Pferde benutzt wurden. Wenn es nicht so fürchterlich gestunken hätte – nach Petroleum, Urin, Erde und abgestandener Luft –, hätte ich vielleicht darin einen Ort erkannt, den ich selbst gern bewohnt hätte, wie die Häuser, die ich mir im Winter unter Schneewehen baute, mit Holzscheiten als Möbeln, wie ein Haus, dasich mir vor langer Zeit unter der Veranda gebaut hatte und dessen Fußboden aus der komischen puderigen Erde bestand, die nie Sonne oder Regen abbekam.
    Aber ich war auf der Hut, saß auf dem schmutzigen Sofa und tat so, als sähe ich mir nichts an. Mein Vater sagte: »Du hast es hier wirklich bequem.« Er saß am Tisch, und da lag die Axt.
    »Du hättest mich sehen sollen, bevor der Schnee geschmolzen ist. Da hat nur der Schornstein rausgeguckt.«
    »Wird’s dir nie einsam?«
    »Mir doch nicht. Hab mich noch nie einsam gefühlt. Und ich hab einen Kater, Ben. Wo steckt er denn? Da ist er, hinter dem Ofen. Vielleicht mag er keinen Besuch.« Er zog ihn hervor, einen großen grauen Kater mit trüben Augen. »Ich zeig euch mal, was der alles kann.« Er nahm eine Untertasse vom Tisch und ein Weckglas aus dem Regal und goss etwas in die Untertasse. Er stellte sie vor den Kater.
    »Joe, dieser Kater trinkt doch nicht etwa Whisky?«
    »Wart’s mal ab.«
    Der Kater stand auf und streckte sich steif, schaute sich hasserfüllt um und senkte den Kopf, um zu trinken.
    »Purer Whisky«, sagte mein Vater.
    »So was hast du bestimmt noch nie gesehen. Und wirst du wahrscheinlich auch nicht wieder. Dieser Kater trinkt jederzeit lieber Whisky als Milch. Tatsächlich kriegt er keine Milch, er hat schon vergessen, wie die schmeckt. Willst du einen Schluck, Ben?«
    »Weiß ja nicht, wo du den herhast. Außerdem habe ich keinen Magen wie dein Kater.«
    Der Kater hatte ausgetrunken, tat ein paar Schritte zur Seite, wartete einen Augenblick, sprang mit ausgestreckten Krallen in die Höhe und landete schwankend, fiel aber nicht hin. Er torkelte, versuchte, mit der Pfote etwas zu fangen, was nicht da war, miaute verzweifelt, schoss dann vor und verkroch sich unter dem Sofa.
    »Joe, wenn du das beibehältst, wirst du bald keinen Kater mehr haben.«
    »Ich tu ihm nichts, er mag das. Mal sehen, was wir für das kleine Mädchen zu essen haben?« Nichts, hoffte ich, aber er brachte eine Dose mit Zuckerstangen, die offenbar schon mal geschmolzen und dann wieder hart geworden waren, so dass die bunten Streifen verlaufen waren. Sie schmeckten nach Nägeln.
    »Die Silas-Brüder sind hinter mir her, Ben. Sie kommen Tag und Nacht. Lassen mich nie in Ruhe. Nachts kann ich sie auf dem Dach hören. Ben, wenn du die Silas-Brüder siehst, sag ihnen, was sie erwartet.« Er nahm die Axt und hieb auf den Tisch ein, schlitzte die verfaulende Wachstuchdecke auf. »Ich hab auch eine Flinte.«
    »Vielleicht werden sie dich nicht mehr behelligen, Joe.«
    Der Mann stöhnte und schüttelte den Kopf. »Die hören nie auf. Nein. Die hören nie auf.«
    »Du musst einfach versuchen, sie nicht zu beachten, dann wird’s ihnen irgendwann zu dumm, und sie gehen weg.«
    »Sie werden mich in meinem Bett verbrennen. Sie haben’s schon mal versucht.«
    Mein Vater sagte nichts, prüfte nur mit dem Finger die Klinge der Axt. Unter dem Sofa krallte und miaute der Kater in Anfällen von Wahnvorstellungen, die langsam schwächer wurden. Überwältigt von Müdigkeit, von der Wärme nach der Kälte, von unerträglicher Verwirrung, schlief ich mit offenen Augen ein.
    Mein Vater setzte mich ab. »Jetzt bist du wieder wach. Steh auf. So. Ich kann euch nicht beide tragen, dich und den Sack voller Ratten.«
    Wir waren auf einer langgezogenen Anhöhe angelangt, als ich wach wurde. Es dunkelte. Das ganze, vom Wawanash River durchzogene Becken lag vor uns – grünlich braune Flecken aus noch unbelaubten Sträuchern und Bäumen und dunklen Nadelhölzern, die der Winter gerupft hatte, strohbraune Felder und die anderen, im Herbst schon umgepflügten, dunkleren mit schwachen Streifen aus Eisschuppen (wie das Feld, daswir vor vielen Stunden überquert hatten), winzige Zäune, Nester grauer Scheunen und

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