Tanz des Verlangens
die Augen schloss, versetzte es ihr einen Stich ins Herz.
Der Vampir ist todunglücklich. Und er ist noch so weit bei Verstand, dass es ihm bewusst ist.
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Qualen? Scheiße, was verstehen die denn schon davon? Er schüttelt den Kopf, als ob er diesen Gedanken loswerden wollte.
Er kann sie mühelos dort unten hören, als Murdoch erklärt, was er über die Gefallenen erfahren hat – Vampire, die töten, indem sie Blut trinken.
„Laute Geräusche versetzen sie in Wut, abgesehen von ihrem eigenen Gebrüll. Rasche Bewegungen ebenso. Sie reagieren darauf, als ob es sich dabei um eine Bedrohung handelt, ganz gleich, wie harmlos sie sein mögen. Nichts ahnend überrascht zu werden würde einen von ihnen in einen Wutanfall versetzen. Der kleinste Hinweis auf ihre eigene körperliche Verletzlichkeit ruft Wut hervor.“
„Warum erzählst du nicht einfach, was sie nicht wütend macht?“, fragt Sebastian.
Da gibt es nicht allzu viel , dachte er, während Murdoch sagt: „Das wäre eine ziemlich kurze Erzählung.“
Er blendet sie aus und beginnt erneut, über dieses geheimnisvolle Wesen nachzugrübeln.
Das Wesen kann eines von drei Dingen sein. Er überlegt. Das Echo einer zersplitterten Erinnerung, eine Halluzination oder ein Geist. Mit den ersten beiden Möglichkeiten hat er seit annähernd dreihundert Jahren Erfahrung, mit der letzten hingegen gar keine. Die ersten beiden sind nichts als Ausgeburten seines verkorksten Verstandes. Den Geist allerdings würde er sich nicht einbilden.
Kann nicht unterscheiden, was real ist und was Illusion . Im Laufe der vergangenen Wochen ist das Wesen immer wieder in sein Zimmer zurückgekehrt. Er hat angefangen, sie wieder zu sehen, wenn auch nicht so deutlich wie in jener ersten Nacht. Jetzt ist es bloß ein schwacher leuchtender Umriss. Aber er kann ihre Gegenwart riechen. Auch in diesem Augenblick wird er von Rosenduft überflutet.
Jedes Mal, wenn sie sich zu ihm gesellt, erlebt er kurze Momente, in denen sein Verstand wieder klar arbeitet. Er begreift diese Verbindung nicht, er weiß nur, dass er beginnt, sich danach zu sehnen, sich konzentrieren zu können.
Ein Mysterium. Wie ist es möglich, dass ein Hirngespinst ihm dabei hilft, wieder klar zu denken? Noch während er ihre Existenz infrage stellt, erkennt er, dass irgendetwas ihm tatsächlich dazu verhilft, seine Gedanken zumindest so weit zu ordnen, dass er in der Lage ist, ihre Existenz zu hinterfragen. Vielleicht liegt es ja an den Spritzen, die sie ihm andauernd verabreichen.
Er kann sich nicht mehr an viel erinnern, was an dem Morgen geschah, als er versucht hatte zu fliehen. Aber er glaubt, dass sie versucht hatte, ihn zu entkleiden, und möglicherweise sogar, ihn zu küssen – bevor sie ihn quer durch das ganze Zimmer geschleudert hatte.
Doch das Wesen hat ihn danach nie wieder angegriffen. Für gewöhnlich hält sie sich in der Nähe der Fensterbank auf. Obwohl er sie auch schon bei mehr als einer nervenaufreibenden Gelegenheit am Fuße seines Bettes gespürt hat.
Viele Jahre lang hat er sich ständig von etwas Unsichtbarem verfolgt gefühlt, und jetzt könnte das sogar der Realität entsprechen.
Nein. Er sieht jeden Tag irgendwelche schattenhaften Gestalten. Was bringt ihn auf die Idee, sie könnte etwas anderes sein? Weil sie einen Duft an sich trägt? Weil er sich zum allerersten Mal wünscht, dass eine Halluzination wahr wäre?
Er weiß, dass es eine schmale Grenze zwischen der Wahrnehmung von Halluzinationen und der Interaktion mit ihnen gibt. Mit Ersterem kann man leben, Letzteres bedeutet, dass man im Arsch ist.
Während des letzten Jahrhunderts hat er sich mit aller Kraft an die letzten Überreste seines Verstandes geklammert. Sie als Realität zu akzeptieren könnte das Gewicht an seinen Füßen sein, das ihn endgültig in die Tiefe zerrt.
Auch wenn ihm das bewusst ist, grübelt er pausenlos über sie nach. Falls sie existiert, ist sie ein Geist. Entstehen Geister nicht dann, wenn jemand gewaltsam zu Tode kommt oder ermordet wird? Wie ist sie also gestorben? Und wann? Ist sie überhaupt ein fühlendes Wesen? Er hat ihre Augen und ihr langes Haar gesehen. Wie sieht wohl der Rest von ihr aus?
Und warum sind meine gottverdammten Gedanken so klar, wenn sie in der Nähe ist?
Es klingt so, als ob seine Brüder jetzt zu ihm ins Zimmer kommen würden. Er will das nicht. Jeden Tag wird die Erscheinung etwas deutlicher, wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung sich über das Zimmer senkt. Aber sobald
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