Tanz im Dunkel
Fotos, auf denen ihr Gesicht geschwollen und mit blauen Flecken übersät war. Ihre Nase – nun ja, die sah mittlerweile wieder gut aus.
Der plastische Chirurg hatte großartige Arbeit geleistet.
Ebenso wie der Zahnarzt.
Ihr Lächeln erstarb. Sie straffte die Schultern. Derzeit konnte sie es sich nicht leisten, darüber nachzudenken. Jetzt war Showtime angesagt. Sie schob die Tür auf und trat hinaus.
Einen Moment lang herrschte Stille, als die vier Leute im Raum Rues Verwandlung bestaunten. Der dunklere der beiden Vampire wirkte zufrieden; der Gesichtsausdruck des rothaarigen blieb unverändert. Das gefiel Rue.
“Sie haben uns an der Nase herumgeführt”, stellte Sylvia fest. Sie hatte eine tiefe, raue Stimme. “Sie waren vorhin sozusagen verkleidet.” Ich muss mir merken, dass man Sylvia Dayton offensichtlich schwer etwas vormachen kann, sagte Rue sich. “Tja, da Sie mit Ihrem Aussehen eindeutig punkten können, wollen wir mal sehen, wie Sie sich auf der Tanzfläche machen. Übrigens, es ist Blue Moon, wofür Sie sich bewerben möchten, nicht wahr? Nicht Black-Moon? Mit Ihrem Gesicht und Ihrer Figur würden Sie schon bald ausgezeichnet zu Black-Moon passen.”
Es war die Blue-Moon-Annonce, auf die sich Rue beworben hatte. “Tänzerin gesucht. Zusammenarbeit mit Vampiren. Erfahrung und soziale Kompetenz erforderlich”, hatte in der Anzeige gestanden. “Honorar plus Trinkgeld.”
“Was ist der Unterschied?”, erkundigte sich Rue.
“Nun ja, für Black-Moon muss die Bereitschaft gegeben sein, vor Publikum Sex zu haben.”
Rue konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal schockiert gewesen war; doch jetzt war sie es. “Nein!”, entgegnete sie und bemühte sich, nicht so entsetzt zu klingen wie sie war. “Und wenn dieses Vortanzen irgendetwas mit Ausziehen zu tun hat …”
“Nein, bei Blue Moon Entertainment geht es ausschließlich ums Tanzen”, fuhr Sylvia fort. Sie war völlig gelassen. “Wie in der Anzeige erwähnt, tanzen Sie mit einem Vampir. Das ist es, was die Leute heutzutage sehen wollen. Jede Art von Tanz, die das Publikum sehen will: Walzer, Hip-Hop … Tango ist auch sehr gefragt. Die Leute wollen als Highlight des Abends einfach ein Tanzpaar, das die Party in Schwung bringt. Sie mögen es, wenn der Vampir das Mädchen am Ende des Showtanzes beißt.”
Das wusste Rue bereits. Es hatte ebenfalls in der Anzeige gestanden. In allen Berichten, die sie darüber gelesen hatte, hieß es, dass es nicht besonders weh tat. Und der Verlust von ein bisschen Blut würde ihr schon nicht schaden. Schließlich hatte sie schon viel schlimmere Verletzungen überlebt.
Rue fand es irgendwie beruhigend, als sie merkte, wie sachlich Sylvia mit dem Thema umging. Sex-Performer, Magier-Assistentin oder Tänzerin – Sylvia machte da keinen Unterschied.
“Blue Moon”, sagte Rue mit fester Stimme.
“Dann also Blue Moon”, wiederholte Sylvia.
Das blonde Mädchen kam herüber und stellte sich neben Sylvia. Es hatte eher kleine, haselnussbraune Augen und volle Lippen, die wie dafür geschaffen waren zu lächeln. Im Moment allerdings war keine Spur von einem Lächeln zu erkennen.
Während Sylvia einen Stapel CDs durchsah, beugte die Blonde sich zu Rue. “Schau ihnen nicht direkt in die Augen”, flüsterte sie. “Wenn sie wollen, können sie dich in ihren Bann ziehen und ihrem Willen unterwerfen. Mach dir keine Sorgen, solange ihre Fangzähne nicht zur Gänze ausgefahren sind. Denn nur dann sind sie gereizt.”
“Danke!”, sagte Rue erschrocken und so leise wie möglich. Nun war sie noch nervöser als vorher, und sie fragte sich, ob nicht vielleicht genau das die Absicht des Mädchens gewesen war.
Nachdem Sylvia eine CD ausgewählt hatte, tippte sie einem der Vampire auf den Arm. “Thompson, du als Erster.”
Der dunkelhaarige, größere Vampir, der enge Radlerhosen und ein altes, ärmelloses T-Shirt trug, stellte sich vor Rue hin. Er sah sehr gut aus – und mit seiner goldschimmernden Haut und dem glatten, kurzen Haar wirkte er sehr exotisch. Rue vermutete, dass er sowohl europäische als auch asiatische Wurzeln hatte; seine dunklen Augen waren leicht schräg gestellt. Er sah lächelnd zu ihr herunter. Doch in seinem Blick lag etwas, dem Rue nicht traute, und dieses Misstrauen war ein Gefühl, das sie stets ernst nahm. Beziehungsweise seit einiger Zeit ernst nahm … Nachdem sie kurz sein Gesicht betrachtet hatte, heftete sie ihren Blick auf sein Schlüsselbein.
Rue hatte noch
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