Tanz im Dunkel
genommen – egal, ob die Frau, die er liebte, ein Mensch oder ein Vampir wie er selbst gewesen war. Seine neue Partnerin, diese Rue, war schön. Eine der schönsten Frauen, die er in den letzten Jahrhunderten gesehen hatte. Sean konnte diese Schönheit bewundern, ohne ihr zu erliegen. Denn er wusste, dass mit Rue etwas nicht stimmte – etwas, das tief in ihrem Inneren versteckt war. Er hatte nicht all die Jahre Menschen beobachtet, sie regelrecht studiert, ohne es mittlerweile zu erkennen, wenn ein Mensch etwas verbarg. Möglicherweise war sie ja ein Spion von einer dieser fanatischen Organisationen, die mit dem Ziel gegründet worden waren, Vampire zurück in die Dunkelheit der Schatten zu drängen. Oder sie war drogensüchtig oder litt an einer anderen Krankheit, die sie so lang wie möglich zu verheimlichen hoffte.
Sean zuckte die Achseln. Er hatte schon viel zu viel darüber nachgedacht, was mit Rue los sein könnte. Was auch immer ihr Geheimnis war – er würde es irgendwann herausfinden. Allerdings freute er sich nicht auf diesen Moment. Er wollte möglichst lange mit ihr tanzen. Sie war leicht und biegsam in seinem Arm, sie roch gut, und beim Anblick ihres dichten, mahagonibraunen Haars, das beim Tanzen mitschwang, spürte er ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust.
Obwohl Sean versuchte, es vor sich zu leugnen, freute er sich mehr darauf, sie zu kosten, als er sich seit Ewigkeiten auf etwas gefreut hatte.
Der Trainingsraum war ein größeres Tanzstudio, das sich hinter dem Raum befand, in dem sie Sylvia und die anderen das erste Mal getroffen hatte. Auf dem Terminplan war für die Zeit von 18 Uhr 30 bis 20 Uhr “Sean/Rue” eingetragen. Rue sah, dass Julie und Thompson nach ihnen trainieren würden.
Die Aussicht, allein mit dem Vampir zu sein, machte sie nervös. Er wartete bereits auf sie – genauso reglos und ruhig wie vor zwei Tagen. Als Vorsichtsmaßnahme hatte sie ein Kettchen mit einem Kreuz umgelegt und es unter ihrem alten, grauen Trikot versteckt. Die schwarzen Shorts, die sie über das Trikot angezogen hatte, waren aus glänzender Kunstfaser. Außerdem hatte sie Ballettschuhe, Steppschuhe und die Charakterschuhe mit den Riemchen mitgebracht, mit denen sie klassische und lateinamerikanische Tänze tanzte. Sie nickte Sean zur Begrüßung zu und ließ die Schuhe auf den Boden fallen. “Ich wusste nicht, was du trainieren willst”, erklärte sie und war sich nur allzu sehr bewusst, dass ihre Stimme vor Nervosität ein bisschen zitterte.
“Warum sind das andere Initialen als deine?”, fragte er. Sogar seine Stimme klang staubig. So, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Zu ihrem Entsetzen musste Rue feststellen, dass sie seinen leichten irischen Akzent trotzdem hinreißend fand.
“Was meinst du? Oh, die Anfangsbuchstaben auf dem Beutel mit den Schuhen?” Sie hörte sich wie ein Idiot an, dachte sie und biss sich auf die Lippe. Diesen Schuhbeutel besaß sie schon so lange, dass ihr das Monogramm gar nicht mehr aufgefallen war.
“Wie ist dein richtiger Name?”
Sie wagte es, ihn kurz anzusehen. Die leuchtend blauen Augen waren nur blaue Augen; sie waren zwar auf sie gerichtet, doch Sean versuchte nicht, sie dadurch in seinen Bann zu ziehen – oder was auch immer es war, was Vampire taten. “Das ist ein Geheimnis”, antwortete sie wie ein kleines Kind und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.
“Wie heißt du wirklich?” Er klang immer noch ruhig, doch es war offensichtlich, dass er nicht lockerlassen würde. Im Grunde nahm Rue es ihm nicht übel. Sie war seine Tanzpartnerin. Er hatte ein Recht zu wissen, wer sie war.
“Ich nenne mich Rue L. May. Mein richtiger Name ist Layla LaRue LeMay. Meine Eltern mochten den Song. Kennst du ihn?” Sie sah ihn zweifelnd an.
“Welche Version? Das Original von Cream oder das langsamere Solo von Eric Clapton?”
Sie lächelte, wenn auch ein bisschen unsicher. “Die Originalversion”, antwortete sie. “In ihrer wilden Zeit dachten meine Eltern, es wäre cool, ihre Tochter nach einem Song zu nennen.” Heute war es schwer vorstellbar, dass es im Leben ihrer Eltern jemals eine Zeit gegeben hatte, in der sie unkonventionell und nicht darauf bedacht gewesen waren, was wohl die Leute von ihnen dachten. Sie senkte den Blick. “Bitte sag niemandem, wie ich heiße.”
“Versprochen.” Sie glaubte ihm. “Wo leben deine Eltern jetzt?”, erkundigte er sich.
“Sie sind gestorben”, antwortete sie, und er wusste, dass es
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