Tanz im Dunkel
auftauchen, sind Sie – außer, Sie liegen mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus – gefeuert. Falls Sie und Sean einmal Streitigkeiten haben, darf das Publikum davon nichts mitkriegen.”
“Wofür sind diese Besprechungen?”, erkundigte sich Rue.
“Wir müssen einander alle persönlich kennen”, antwortete Sylvia. “Und wir müssen uns über die Probleme mit unseren Kunden austauschen. Man kann einige unerfreuliche Situationen vermeiden, wenn man weiß, wer Schwierigkeiten machen wird.”
Rue hatte nicht gewusst, dass es “Schwierigkeiten” geben konnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und merkte, dass es ihr in ihrem Trikot plötzlich kalt war. Dann schaute sie auf den Vertrag in ihren Händen und sah, dass pro Auftritt bezahlt wurde. Sie wusste, dass sie unterschreiben würde; sie würde Sylvia morgen den Vertrag unterzeichnet übergeben, damit sie so bald wie möglich mit der Arbeit beginnen konnte.
Erst als Rue wieder in ihrer bescheidenen Wohnung war, die in einem ausgesprochen unsicheren Teil von Rhodes lag, las sie sich den Vertrag doch genau durch. Er war in einfachen Worten verfasst und beinhaltete keine unerfreulichen Überraschungen. Alles war so, wie Sylvia es ihr erklärt hatte. Es gab zwar ein paar zusätzliche Klauseln – etwa dass Rue bei Verhinderung rechtzeitig Bescheid geben musste oder wie mit den Kostümen zu verfahren sei, die sie aus dem Fundus ausborgte –, doch im Großen und Ganzen war es ein Standardvertrag. Er konnte nach einem Jahr verlängert werden, falls beide Parteien es wollten.
Am nächsten Morgen, einem für den Mittelwesten typisch kühlen Frühlingsmorgen, machte sich Rue zeitig auf den Weg zur Uni, damit sie noch Zeit für einen Abstecher zum Blue Moon hatte. An der Tür des alten Gebäudes, in dem sich das Blue Moon/Black-Moon befand, gab es einen Briefschlitz. Mit einem Gefühl großer Erleichterung steckte Rue den gefalteten Vertrag durch die Öffnung. Und noch am selben Abend rief Sylvia Rue an, um mit ihr die erste Trainingseinheit mit Sean O’Rourke zu vereinbaren.
2. KAPITEL
Sean war bereits im Tanzstudio, trug abgeschnittene Jogginghosen und ein ärmelloses T-Shirt und wartete. Die neue Kollegin war noch nicht zu spät dran. Sie würde pünktlich sein, denn sie brauchte den Job. Er war ihr an dem Tag, als sie sich bei Sylvia vorgestellt hatte, nach Hause gefolgt. In den vielen Jahren, seit er ein Vampir war, war er immer auf der Hut gewesen – und genau das hatte ihn nun mehr als 275 Jahre am Leben erhalten. Eine seiner Vorsichtsmaßnahmen war es, die Leute, mit denen er zu tun hatte, gut zu kennen. Und deshalb war Sean entschlossen, mehr über Rue herauszufinden.
Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie war ganz offensichtlich arm. Doch sie hatte eine mehrjährige Tanzausbildung genossen, war gepflegt und hatte eine perfekte Frisur. Außerdem deutete ihre Art zu sprechen darauf hin, dass sie aus privilegierten Verhältnissen stammte. War es möglich, dass sie irgendeine Art von Spion war, der verdeckt ermittelte? Doch hätte Rue – wenn es denn so wäre – nicht die Gelegenheit am Schopf gepackt, für das Black-Moon zu arbeiten? Es war der einzige Aspekt an Sylvias Unternehmen, der in irgendeiner Form von Interesse sein könnte. Vielleicht war Rue ja auch nur ein reiches Mädchen, das einen abenteuerlichen Nervenkitzel suchte.
Während seiner ersten fünfzig Jahre als Vampir hatte Sean O’Rourke sein Möglichstes getan, um seine Existenz vor der Welt der Menschen zu verstecken. Er hatte sich auch von Seinesgleichen ferngehalten; wenn er mit ihnen zusammen war, wurde die Versuchung, seine wahre Natur zu erforschen, zu groß. Sean war von dem Mann, der ihn zum Vampir gemacht hatte, im Stich gelassen worden. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, die einfachen Regeln zu lernen, die seinen Zustand betrafen. In seiner Unwissenheit hatte Sean in den Elendsvierteln von Dublin Menschen umgebracht. Erst mit der Zeit hatte er gelernt, dass es nicht notwendig war, seine Opfer zu töten. Ein kleiner Schluck Blut jede Nacht erhielt ihn am Leben. Außerdem hatte er sich die mentale Technik angeeignet, die Erinnerung seiner Opfer zu löschen. Fast ebenso erfolgreich hatte er gelernt, seine eigenen Erinnerungen zu löschen.
Nach fünfzig Jahren, in denen er stärker und kälter geworden war, hatte er es riskiert, sich in die Gesellschaft anderer Vampire zu wagen. Ab und zu hatte er sich verliebt, doch das hatte jedes Mal kein gutes Ende
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