Tanz mit dem Schafsmann
die Schritte kamen, um so mehr versiegte merkwürdigerweise meine Angst. Alles in Ordnung, beruhigte ich mich. Es war nichts Böses. Das war deutlich zu spüren. Nichts, vor dem man sich fürchten musste. Ich konnte mich ihm bedenkenlos überlassen. Alles in Ordnung. Ich befand mich in einem Strudel warmer Körpersäfte. Ich umfasste den Türknauf, schloss die Augen und hielt den Atem an. Alles in Ordnung. Keine Angst. Im Dunkeln vernehme ich einen dröhnenden Herzschlag. Es ist mein eigener. Ich bin eingehüllt in diesen Ton, bin ein Teil von ihm. Du brauchst nichts zu befürchten, sagte ich mir selbst. Es ist einfach nur alles miteinander verbunden. Die Schritte halten an. Dicht vor mir. Es schaut mich an. Ich hielt die Augen geschlossen und sagte mir erneut: Es ist alles miteinander verbunden. Ich war mit allem verbunden. Mit den Ufern des Nils, mit Kiki, mit dem Hotel Delfin, mit dem guten alten Rock ’n Roll – einfach mit allem. Auch mit den gesalbten, wohlduftenden nubischen Dienerinnen. Eine tickende Zeitbombe. Ein altes Licht, ein altes Geräusch, eine alte Stimme.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte das Etwas. »Die ganze Zeit schon. Komm rein.«
Ich brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, wer da sprach.
Es war der Schafsmann.
11
Wir saßen uns an einem alten Tischchen gegenüber und unterhielten uns. Ein rundes Tischchen, auf dem nur eine einzige Kerze brannte. Die Kerze stand auf einer Untertasse aus Ton. Andere Möbel gab es nicht. Auch keine Stühle. Wir saßen auf Bücherstapeln.
Es war das Zimmer des Schafsmannes. Ein schmales, enges Kabuff. Wände und Decke erinnerten atmosphärisch an das alte Hotel Delfin, doch bei näherer Betrachtung sahen sie doch ganz anders aus. Hinten gab es ein Fenster, das jedoch von innen verbarrikadiert war. Es musste schon lange Zeit in diesem Zustand sein, denn zwischen den Brettern lag eine dicke graue Staubschicht, und die Nägel ragten heraus. Sonst gab es nichts weiter in dem Zimmer. Es wirkte wie eine rechteckige Box. Keine Lampen. Auch kein Klosett. Weder ein Bad, noch ein Bett. Vermutlich schlief er auf dem Boden. Eingemummelt in sein Schafskostüm. Es war so eng, dass immer nur eine Person das Zimmer durchqueren konnte. Der Boden war übersät mit alten Akten, Zeitungen und Sammelalben. Alles war vergilbt und manches hoffnungslos von Würmern zerfressen oder zerfleddert. Auf den ersten Blick schienen sämtliche Schriftstücke mit der Geschichte der Schafe in Hokkaido zu tun zu haben. Vermutlich stammte das alles aus dem alten Delfin. Dort hatte es nämlich ein Archiv über Schafe gegeben, das der Vater des damaligen Eigentümers verwaltet hatte. Was mochte aus ihm geworden sein?
Der Schafsmann blickte mich über die flackernde Kerzenflamme hinweg an. Sein riesiger Schatten bebte an der fleckigen Wand, ein überdimensionaler, monströser Schatten.
»Ist lange her«, sprach er hinter seiner Maske und schaute mich dabei an. »Du hast dich nicht verändert. Ein bisschen dünner vielleicht?«
»Schon möglich, dass ich ein bisschen abgenommen habe«, sagte ich.
»Nun, was macht die Welt da draußen? Ist irgendwas Besonderes vorgefallen? Wenn man hier drinnen hockt, kriegt man ja nichts mit«, sagte er.
Ich schlug die Beine übereinander und schüttelte den Kopf. »Alles wie eh und je. Nichts Großartiges passiert. Die Welt wird nur zunehmend komplexer. Und die Dinge beschleunigen sich in ihrer Entwicklung. Doch sonst ist alles beim Alten geblieben. Nein, es gibt nichts wirklich Neues.«
Der Schafsmann nickte. »Der nächste Krieg hat also noch nicht begonnen?«
Ich wusste zwar nicht, welcher Krieg für ihn der letzte war, schüttelte aber den Kopf. »Nein«, sagte ich, »noch nicht.«
»Früher oder später wird es aber dazu kommen«, leierte er mit monotoner Stimme und rieb sich die behandschuhten Hände. »Nimm dich in Acht. Wenn du überleben willst, sei auf der Hut. Der Krieg kommt todsicher. Das war immer so. Er bleibt nie aus. Auch wenn man es nicht wahrhaben will, er kommt todsicher. Im Grunde ihres Herzens haben die Menschen einen Killerinstinkt. Sie bringen sich gegenseitig um, bis alle vernichtet sind. Dann machen sie eine Pause und beginnen wieder zu töten. Daran ist nicht zu rütteln. Man kann niemandem vertrauen. Es wird sich nichts ändern. Man ist machtlos. Wem das nicht behagt, der kann nur in eine andere Welt flüchten.«
Das Schaffell, das er trug, war noch schmutziger als früher, die Wolle verfilzt und schmierig.
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