Tanz mit dem Schafsmann
Und seine schwarze Maske wirkte weit erbärmlicher, als ich sie in Erinnerung hatte, so als wäre sie in letzter Minute zusammengeschustert worden. Vielleicht lag es ja auch an dem schäbigen feuchten Kabuff und dem Funzellicht. Und das eigene Gedächtnis ist nicht immer ganz zuverlässig. Aber es war nicht nur seine Verkleidung, er wirkte einfach abgespannter als früher, verbraucht. Ich hatte den Eindruck, dass er in den letzten vier Jahren gealtert und eine Nummer kleiner geschrumpft war. Wenn er hin und wieder tief seufzte, hörte sich sein Atmen nicht gut an. Ein unangenehmes Röcheln und Rasseln wie bei einem verstopften Rohr.
»Ich dachte, du würdest eher kommen«, sagte der Schafsmann und sah mich an. »Ich habe die ganze Zeit gewartet. Inzwischen kam noch jemand anderes vorbei. Ich dachte erst, du wärst das. Derjenige hat sich bestimmt verirrt. Merkwürdig, nicht wahr? Eigentlich sollte sich ein Fremder nicht so einfach hierher verirren können. Egal, ich dachte jedenfalls, du würdest eher kommen.«
Ich zuckte die Schultern. »Ich habe immer gewusst, dass ich zurückkommen werde. Zurückkommen muss. Mir fehlte es nur an Entschlusskraft. Ich habe viel geträumt. Vom Hotel Delfin, meine ich. Die ganze Zeit über. Aber es dauerte eine Weile, bis ich mich entschließen konnte zu kommen.«
»Wolltest du es vergessen?«
»Bis zu einem gewissen Zeitpunkt schon«, gab ich zu. Ich betrachtete meine Hände in dem flackernden Kerzenlicht. Woher kam eigentlich die Zugluft? »Zuerst wollte ich vergessen, was ich vergessen konnte. Mein Leben sollte nichts mehr mit diesem Ort zu tun haben.«
»Weil dein Freund gestorben ist?«
»Ja, ich denke schon, dass es mit ihm zu tun hatte.«
»Nun bist du aber doch gekommen.«
»Stimmt, jetzt bin ich hier«, sagte ich. »Ich konnte diesen Ort wohl doch nicht aus dem Gedächtnis streichen. Ich habe es versucht, aber irgendwas hat mich immer daran erinnert. Vielleicht ist es ein besonderer Ort für mich. Ob es mir nun gefällt oder nicht, ich habe das Gefühl, dass ich ein Teil von hier bin. Was das konkret bedeutet, weiß ich selbst nicht. Aber ich fühle es ganz deutlich. Auch in meinen Träumen. Es gibt hier jemanden, der Tränen um mich vergießt, der nach mir verlangt. Darum habe ich beschlossen herzukommen. Aber sag mir, wo bin ich hier?«
Der Schafsmann blickte mich eine Weile wortlos an. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß selbst nichts Näheres. Nur, dass der Ort hier sehr groß und dunkel ist. Aber wie groß, wie dunkel, weiß ich auch nicht. Ich kenne nur dieses Zimmer hier. Alles andere ist mir unbekannt. Ich kann dir also nichts Genaues sagen. Auf jeden Fall bist du jetzt hier. Demnach war die Zeit dafür reif. Mag sein, dass jemand mittels dieses Ortes um dich weint. Vielleicht verlangt jemand nach dir. Wenn du das spürst, wird es wohl so sein. Egal. Es war jedenfalls unausweichlich, dass du hergekommen bist. So wie der Vogel in sein Nest zurückfliegt. Ein ganz natürlicher Vorgang. Andersrum gesagt, würdest du nicht kommen, gäbe es diesen Ort gar nicht.« Der Schafsmann rieb sich erneut die Fäustlinge. Der Schatten an der Wand bebte gewaltig. Als würde ein schwarzes Gespenst sich von oben auf mich stürzen. Wie in alten Zeichentrickfilmen. Der Vogel fliegt in sein Nest zurück, so ließe sich das Gefühl beschreiben. Ich war einfach nur meinem Impuls gefolgt.
»Na, nun erzähl mal«, forderte mich der Schafsmann mit ruhiger Stimme auf. »Erzähl mir was von dir. Das hier ist dein Reich. Also zier dich nicht. Du kannst mir ruhig alles erzählen, was dich bewegt. Es gibt doch bestimmt einiges, das du loswerden möchtest.«
Während ich im Kerzenschein seinen Schatten an der Wand betrachtete, schilderte ich ihm meine ganze Situation. Es war tatsächlich lange Zeit her, dass ich jemandem so ehrlich mein Herz ausgeschüttet hatte. Ruhig und ausführlich berichtete ich ein Ereignis nach dem anderen. Es dauerte eine ganze Weile, so wie Eis schmilzt. – Dass ich mich irgendwie über Wasser halte. Obwohl ich nirgendwo hingehen kann. Dabei aber trotzdem gealtert bin. Dass ich niemanden ernsthaft zu lieben imstande bin. Dass ich meine Leidenschaft verloren habe. Dass ich nicht weiß, was ich mir wünschen soll. Dass ich jedoch bei allem, was ich tue, mein Bestes versuche. Dass es aber keine Rolle spielt. Dass ich spüre, wie ich langsam steif werde. Und dabei das Gefühl habe, dass mein gesamtes Körpergewebe von innen her allmählich erstarrt. Dass ich
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