Tanz unter Sternen
sie Kreide und bemalten den Fußweg vor ihrem Haus. Einige Nachbarn schüttelten die Köpfe hinter ihren Fenstern. Davon ließen sie sich nicht beirren. Bald hatte sich eine Kinderschar gesammelt, und Nele lud die Kinder ein, mitzumachen. Sie malten gemeinsam, dann verschenkten Nele und Matheus die Kreide und zogen weiter.
Sie suchten sich das Ausgangsloch eines Ameisennests am Straßenrand, weichten in einer Pfütze Kekse ein und fütterten die Ameisen damit. Sie gingen auf den Friedhof zu Samuels und Cäcilies Grab. Der Friedhof erinnerte sie daran, dass jeder Tag des Lebens ein Geschenk war.
»Heute ist Samuels Todestag«, sagte Matheus. Er stand an den zwei Grabsteinen und dachte an die Nacht vor dreizehn Jahren zurück, in der die mächtige Titanic versunken war. Er dachte an die Schreie der Erfrierenden. An Samuel auf Cäcilies Schoß. Nele und er hatten stundenlang im kalten Wasser gestanden, während ihr Boot unterging. Damals hatten sie kaum geglaubt, noch einen Morgen zu erleben.
Matheus berührte Cäcilies und Samuels Grabstein. Er sagte: »Wir sehen euch wieder, alle beide.«
»Das wäre schön«, sagte Nele.
Eine Frau kam über den Kiesweg auf sie zugehumpelt, gebeugt vom Alter. Sie stützte sich auf einen Stock. Einzelne weiße Haarsträhnen wehten ihr über den grünen Mantel, der Wind holte immer mehr davon unter dem Hut hervor. Sie wischte sie sich aus der Stirn. Sie fragte: »Are you Matheus Singvogel?«
»Und wer sind Sie?«, fragte er in englischer Sprache.
»Ich dachte mir, dass ich Sie hier finde. Es ist der Jahrestag.« Sie sah zu den Gräbern. Dann blickte sie Nele und ihn an. Ihre blauen Äuglein funkelten wie Perlen im runzeligen Gesicht. »Ich bin Adams Mutter. Man hat mir gesagt, dass er vor dem Untergang mit Ihnen gesehen wurde.«
Matheus nickte. »Ich habe ihn getroffen, kurz bevor das Schiff versunken ist, das ist richtig.«
»Können Sie mir etwas über die letzten Stunden meines Sohnes erzählen?«, bat die Alte. »Er ist mit Juwelen in den Taschen erfroren, so hat man ihn im Meer gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Sohn ein Dieb gewesen ist.«
Er sah den hageren jungen Mann mit den zigarettengelben Fingern vor sich. »Ob er ein Dieb war, das weiß ich nicht«, sagte er. »Aber er hat in seiner letzten Stunde große Freundschaft bewiesen. Er hat uneigennützig gehandelt.«
Im Gesicht der alten Frau zeigte sich Hoffnung. »Wie meinen Sie das?«
»Adam war schon unterwegs zu den Rettungsbooten. Auf meine Bitte hin ist er umgekehrt, um das Leben eines Kindes zu retten.«
Sie nickte. »Das ist mein Sohn«, sagte sie. »Ja, das ist mein Sohn.«
ANHANG
Anhang
Eine Schreckenskunde wird durch den Draht vermittelt. Gestern Abend ist der neue Riesendampfer der White Star Line Titanic bei Cape Race in Neufundland mit einem Eisberg zusammengestoßen und gesunken.
Vossische Zeitung , Abendausgabe vom 15. April 1912
Die RMS Titanic, ihre Passagiere und die Ursachen des Unglücks
Gab es wirklich Deutsche an Bord der Titanic?
Die 29-jährige Emilie Kreuchen aus Oldisleben zwischen Erfurt und Halle an der Saale fuhr als Dienstmädchen einer reichen amerikanischen Witwe mit. Die Witwe bewohnte eine Kabine der ersten Klasse im Brückendeck, Emilie Kreuchen wohnte im Oberdeck. Nach dem Zusammenstoß bemerkte Emilie, dass der Flur sich mit Wasser füllte, und warnte die anderen. Die Witwe und das Dienstmädchen überlebten im selben Rettungsboot. 1913 kehrte Emilie nach Deutschland zurück. Lange hielt sie es in der Heimat nicht aus. Sie zog 1916 nach San Francisco und starb 1971 in Kalifornien.
Der 31-jährige Bäcker August Meyer, geboren in Rhoden (heute Diemelstadt), starb beim Untergang der Titanic.
Alfred Nourney aus Köln war als Hochstapler unter dem Namen Baron Alfred von Drachstedt an Bord. Er hatte ursprünglich eine Kabine zweiter Klasse gebucht, kaufte sich an Bord aber ein »Upgrade« in die erste Klasse. Beim Zwischenstopp in Queenstown schickte er seiner Mutter eine Postkarte:
Liebe Mutter,
ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse!
Ich kenne schon sehr nette Leute! Einen Brillantenkönig!
Mister Astor, einer der reichsten Amerikaner, ist an Bord!
Tausend Küsse,
Alfred
Beim Kartenspiel versuchte er, den reichen Passagieren Geld abzuluchsen. Als die Titanic unterging, verlor er alles, was er hatte, unter anderem 750 Mark (zumindest gab er das später so zu Protokoll). Er nahm in einem der ersten Rettungsboote Platz und feuerte aus seinem
Weitere Kostenlose Bücher