Tanz unter Sternen
neue Warenwelt zu präsentieren. Genauso Oscar und Martin Tietz, denen das Kaufhaus des Westens gehörte und die Tietz-Warenhäuser. Matheus hatte in letzter Zeit häufig gehört, wie die Leute über die Juden schimpften. Jetzt verstand er, warum: Man war schlichtweg neidisch auf ihren Erfolg.
Je länger er durch die Etagen wanderte, desto unwohler fühlte er sich. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, was ihn störte. Das Warenhaus erinnerte ihn an die Titanic. Es glänzte, es strahlte gerade so wie der Luxusdampfer. Selbst die Menschen, die hier einkauften, ließen ihn an die Passagiere der Titanic denken.
Ein Angestellter lud ihn in einen Rauchsalon ein, er dachte wohl, Matheus sei mit seiner Frau hier und langweile sich, während sie Hüte anprobierte. Matheus lehnte höflich ab und verließ das Warenhaus.
Er ertappte sich dabei, wie er einer Frau auf die blassen Schenkel starrte. Er hatte noch nicht gelernt, mit der neuen Mode umzugehen, den Röcken, die nur bis zu den Knien reichten, und dem knabenhaft schlanken, sportlichen Aussehen der Mädchen. Auch die Gesichter hatten sich verändert und zogen, ohne dass er es wollte, seinen Blick an: Die Frauen umrandeten schwarz ihre Augen und rasierten die Brauen zu eleganten Formen.
Sigmund Freud hätte sicher ein Vergnügen daran gehabt, zu untersuchen, weshalb er rot bemalten Frauenmündern hinterhersah. Da waren Gefühle, die sich unter einer tiefen Schicht aus Schutt verbargen, Schmerzen beispielsweise, die er eigentlich schon seit Jahren abarbeitete. Cäcilie war nicht in der Spree ertrunken, sondern jahrelang gestorben. Sie war unaufhaltsam unter dem Gewicht einer Schuld zugrunde gegangen, die sie nicht loslassen, nicht hergeben konnte. Er, Matheus, hatte dabei zusehen müssen.
Auf einem Plakat sah er den Namen Nele Stern. Erschüttert blieb er an der Litfaßsäule stehen und las: Ägyptischer Tanz . Französische Straße, Ecke Friedrichstraße, das war ganz in der Nähe. Vom »Kleinen Theater« hatte er noch nie gehört. Aber der Name Nele Stern wühlte ihn auf. War das seine Nele, die junge Tänzerin, die er vor zwölf Jahren auf der Titanic kennengelernt hatte?
Er verbummelte die restlichen Stunden in zwei Cafés. Am Abend suchte er das Theater auf. Er bezahlte eine Mark Eintritt und betrat hinter der Kasse einen abgedunkelten Raum mit schäbigen gelben Seidentapeten. Die Plüschsessel und Kronleuchter bewiesen, dass der Saal einst bessere Tage erlebt hatte. Inzwischen glich er in seiner zerschlissenen Extravaganz etwa dem, was sich Matheus unter einer Puffeinrichtung vorstellte.
Rauchschwaden hingen in der Luft, und etliche qualmende Männer bliesen immer neue dazu. In der dritten Reihe war ein Platz frei. Matheus setzte sich. Die Bühne war leer, ein Scheinwerfer malte einen kreisrunden hellen Fleck auf den roten Vorhang.
Oft genug hatte er seine Gemeindemitglieder vor sittenloser Unterhaltung und billigen Amüsierbetrieben gewarnt. Er fühlte sich fremd hier. Die Männer um ihn herum – tatsächlich saßen kaum Frauen im Publikum – gaben ihm das irritierende Gefühl, durchschaut zu sein, als habe man ihn dabei ertappt, im Schwimmbad durch ein Schlüsselloch in die Umkleidekabine der Frauen zu spähen. Sie alle wollten sich an Nele berauschen, und wollte er das nicht auch? Trotzdem, ihr lautes Palavern und ihre lüsterne Erwar tung stießen ihn ab. So bin ich nicht, dachte er. Ich sitze zwar hier, aber mich unterscheidet einiges von ihnen.
Wie um ihn zu verhöhnen, erwachte eine Herde tobender wilder Pferde in ihm. Es war seine Pflicht, sie zu beherrschen, das machte ihn erst zu einem Menschen. Ich bin den Trieben nicht ausgeliefert, sagte er sich. Und doch sehnte er Neles Anblick herbei.
Eine Oboe begann zu spielen, leise und geheimnisvoll. Nach und nach kamen weitere Instrumente hinzu, Flöten, Geigen. Die Oboe verschnörkelte auf orientalische Weise die Melodie. Lautlos glitt der Vorhang auf. Nele erschien, und die Männer brachen in Jubel aus.
Sie trug ein langes, glitzerndes Kleid. Von ihren Armen hingen himmelblaue Tücher herab. Barfuß tanzte sie über die Bühne, sie wiegte die Hüften, bog die schlanken Hände. Ab und an blitzte ihr Bein auf, wenn der Schlitz im Kleid sich öffnete. Sie drehte sich, tanzte eine Weile mit dem Rücken zum Publikum. Sie schüttelte die Schultern. Dann wieder wiegte sie sanft ihren Körper zu den Klängen der Oboe. Sie reckte die Hände über den Kopf und ließ sie sanft niedersinken.
Es wurde still im
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