Tanz unter Sternen
durch den Schnee fuhr, kaum erkennbar war sie, nur mit feinen Strichen angedeutet. Samuel wäre ein feiner junger Mann geworden, dachte er, ein sensibler, aufmerksamer Mann.
Die Spielsachen brachte Matheus zum Waisenheim. Dort stürzten sich die Kinder darauf. Allein die Blechlok behielt er und stellte sie auf die Kommode im Wohnzimmer.
Nichts war mehr wichtig, nicht die Gemeinde, nicht die Nachbarn, die Predigten nicht, und auch das Buch, das er zu schreiben begonnen hatte, war bedeutungslos. Er saß im Wohnzimmer, lauschte dem Ticken der Uhr an der Wand und atmete. Er aß und schlief.
Ohne Cäcilie wurde die Welt für Matheus klein. Er bekam kaum etwas vom Putschversuch in Bayern mit, über den in Berlin alle redeten, von der Schießerei und den getöteten Polizisten. Er hörte abwesend den Namen Adolf Hitler, vergaß ihn aber gleich wieder. Hitlers Wunsch, die Macht im Deutschen Reich zu übernehmen, zerplatzte, während Matheus sich einen Tee kochte. Er dachte viel an Cäcilie, meistens an die Zeit, in der sie zusammengekommen waren. Wie sie gelacht hatte! Einmal hatte sie sich vor Lachen an ihm abstützen müssen und nahezu einen Bauchkrampf bekommen, als man mit dressierten Hunden am Berliner Hohenzollernplatz für Rex-Tee warb. Die Kunststücke der mit Werbedecken bespannten Tiere hatten so albern ausgesehen.
Politik interessierte ihn nicht mehr, Reichsrat und Reichstag, der neue Präsident Friedrich Ebert, der Kaiser im Exil in den Niederlanden, es war ihm gleichgültig. Er ging einkaufen im Kolonialwarenladen, ignorierte den mitleidigen Blick der Verkäuferin, bezahlte und kehrte heim.
Nach einigen Wochen begann er, wieder an seinem Buch zu arbeiten. Er schrieb darüber, wie alles schneller wurde, wie die Maschinen und die massengefertigten Waren das Leben veränderten. Er schrieb über seine Kindheit, die noch so anders gewesen war, mit Gesprächen auf der Straße, Dösen im Sonnenschein, Zeit zum Beobachten von Tieren. Dabei wusste er, dass er selbst Betroffener war und die letzten Jahre viel zu schnell gelebt hatte.
Die alte Schreibmaschine war wie eine Mitbewohnerin, an manchen Tagen war sie schlecht gelaunt, dann blieb beim Tippen das Farbband hängen oder die Hebel verhedderten sich. Er redete ihr gut zu. Nie schimpfte er mit ihr, überhaupt schien es ihm, als habe die Einsamkeit ihn geduldiger gemacht.
Man fragte vorsichtig an, ob er die Arbeit in der Kirche fortsetzen könne. Er versprach, in fünf Wochen, am 1. August, wieder einzusteigen. Die Wochen verstrichen wie im Flug. An seinen letzten freien Tagen spazierte er durch die Stadt und ging an jeden Ort, mit dem er Erinnerungen an Cäcilie verband. Je ausgelassener das Leben um ihn herum tobte, desto einsamer kam er sich vor ohne sie und ohne Samuel.
Er würde Samuels Zimmer vermieten, nahm er sich vor, vielleicht an einen Studenten. Dann musste er nicht mehr allein frühstücken und zu Abend essen.
Ein einarmiger Losverkäufer sprach ihn an. »Das ist Ihr Tag heute, Sie gewinnen! Können Sie nicht ein wenig Lebensglück gebrauchen?«
Matheus kaufte ein Los. Es war eine Niete.
»Das tut mir leid«, sagte der Verkäufer. »Das nächste gewinnt bestimmt!«
Aber Matheus ging weiter. Obwohl er nichts einkaufen wollte, spazierte er zu Wertheim und staunte über die Blumengirlanden von Fenster zu Fenster, die eleganten Terrassen, die Aufzugjungen. Er wurde empfangen wie ein König. War Cäcilie deshalb immer so gern hierhergegangen?
Persische Teppiche wurden mit Lampen beleuchtet, es gab indische Shawls, mit Gold durchflochtene Tücher. Schier alles konnte man hier kaufen: von Briefpapier über Tierfutter hin zu Möbeln, Schuhen und Zubehör für Automobile.
Was ihn verblüffte, war, dass jeder Kunde das Recht hatte, die Waren ausgiebig zu betrachten und sogar anzufassen. In den Bekleidungs- und Schuhgeschäften, die er kannte, war das nicht so. Man wurde bedient, und bis zur Bezahlung gehörte die Ware dem Kaufmann, nur ihm und seinem Personal war es gestattet, sie herzuzeigen. Nicht so im Kaufhaus. Hier befühlten die Kunden das Angebotene, als sei es bereits ihres.
Ebenfalls überraschte ihn, dass Wertheim ein Umtauschrecht gewährte und sogar auf Informationstafeln dafür warb – wer unzufrieden war oder das Falsche erworben hatte, konnte es zurückbringen und sich etwas Neues aussuchen.
Die jüdischen Kaufleute bewiesen, dass sie mit der Zeit zu ge hen wussten. Georg Wertheim beherrschte es perfekt, die moderne, helle, glänzende
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