Tanz unter Sternen
glaubt an mich, sonst hätte er mich nicht ins Programm genommen.«
»Schätzchen, was bezahlt er dir? An deinem Lohn kannst du schon sehen, dass er kaum mit einem Durchbruch rechnet. Aber spinn dich ruhig in deine Träume ein und bau weiter an deinen Luftschlössern!«
Nele blieb stehen. »Du versuchst mir Angst einzujagen, damit ich heute Abend versage«, zischte sie. »Dabei bist du es, die sich fürchtet, sonst wäre ich dir doch egal! Du zitterst, dass ich besser werden könnte als du.«
Senta lachte. Ihr ganzer Körper bäumte sich auf in diesem Lachen. »Besser als ich? Meine Liebe, da habe ich keine Befürchtungen.« Sie wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich mag es nur nicht, dass du mit deiner Stümperei ein schlechtes Licht auf den Solotanz wirfst. Er ist etwas Majestätisches, verstehst du? Aber nein, das verstehst du nicht. Ich muss zur Garderobe. Hals und Beinbruch, Nele.«
Im vorderen Teil der Bühne stellten sich Dutzende von Frauen in knappen Kostümen auf. Auf ein Zeichen des Direktors hin erscholl Musik. Licht flammte auf. Die Frauen kamen in wiegenden Schritten die Showtreppe hinunter, juchzten und präsentierten zum Cancan ihre zartbestrumpften Schenkel. Die Bewegungen der Tänzerinnen wurden rasender, ihre Wangen glühten.
Wie betäubt stand Nele davor und starrte auf die Bühne.
Der Direktor klatschte in die Hände. »Gut so«, rief er, »das ge nügt.« Er winkte den Frauen, sie sollten die Bühne verlassen. Dann wandte er sich Nele zu. »Das ist deine große Chance heute, Mädchen. Gib alles. Feg die Männer von den Stühlen.«
Sie nickte.
»Das ist noch nicht das Kostüm, oder?«
»Doch.« Das Kleid mit Rüschen, Federn und Pailletten hatte sie erst Montag gekauft. Mutter und sie würden sich deswegen einen Monat lang von Kartoffeln ernähren müssen. Auch den Tanzunterricht zahlte sie ja noch ab; bei der alten Meisterin Irene Sanden, die ihr das Tanzen beibrachte, war sie sechs Monate im Rückstand.
»Hast du nicht gesagt, es ist aus Seide?«
Seide war zu teuer gewesen. »Ich konnte leider nicht –«
»Zu spät, wir sind mitten im Schnelldurchlauf. Du bist dran. Du hast fünf Minuten.«
Nele stieg die seitliche Treppe hinauf. Heute Abend gehörte ihr für die Dauer eines Boleros die wichtigste Bühne Berlins. Jedes der Cancan-Mädchen würde sterben für eine solche Chance.
Sie musste nicht gleich so erfolgreich sein wie Senta und auf Tourneen durch Europa und Amerika reisen. Im Wintergarten wechselte alle vierzehn Tage das Programm. Wenn sie es schaffte, zwei Wochen lang das Publikum zu begeistern, konnte sie sich bereits einen Namen als Tänzerin machen. Eine Künstleragentur würde sie unter Vertrag nehmen und ihr weitere Auftritte verschaffen.
Direktor Hundrich gab ein Zeichen, und es erklang ihr Stück, der Bolero von Moritz Moszkowski. Sie zog die Schuhe aus. Ein Zugeständnis, das sie Hundrich hatte machen müssen, er versprach sich einiges davon, dass er sie im Programm als Barfußtänzerin bezeichnete. Der dicke Direktor hielt die Augen prüfend auf sie geheftet. Was, wenn er plötzlich der Meinung war, dass sie nicht gut genug war für seine Bühne?
Nele schloss die Augen. Sie lauschte auf die Musik, hob langsam ihr rechtes Bein in eine Arabesque, ging über zu einer Attitude, endete in einem Developpé. Sie stellte sich auf die Spitzen, ließ sich in einem Ausfallschritt nach vorne fallen, und ihre Arme kreisten in einem großen Port de bras über ihrem Kopf. Alles gelang ihr, sie war zufrieden. Sie drehte einige Châinés durch die Diagonale der Bühne, verharrte, sprang in kleinen Jetés zurück zur Mitte und drehte sich erneut. Sie blühte auf wie eine Rose. Ihre Brust und ihr schlanker Bauch hoben und senkten sich unter ihrem Atem. Noch ein Port de bras und anschließend einige Pirouetten.
Sie war gut, das merkte sie. Nicht mit Glück hatte sie das Engagement im Rahmen des Revue-Abends ergattert, sondern mit Können.
Hundrich klatschte und rief: »Deine Zeit ist um, andere müssen auch noch proben.« Abrupt erstarb die Musik. »Wo ist Franz, wo sind die Seelöwen? Und du, Nele, komm nochmal her.«
Sie richtete sich auf. Der Seelöwen-Dresseur brachte Wassereimer mit Fischen auf die Bühne. Balalaikaklänge drangen aus den hinteren Räumen, und Männergesang: Die russische Tanztruppe Samowar bereitete sich vor, deren Mitglieder Nele immer schöne Augen machten.
»Hör zu, Kind«, sagte Hundrich, kaum dass Nele von der Bühne hinuntergestiegen
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