Tanz unter Sternen
an. Seine alten Pantoffeln – Cäcilie hasste sie – hatten zwei Löcher vorn bei den Zehen, und waren keinesfalls für einen seelsorgerlichen Besuch bei der Nachbarin geeignet. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er und verließ die Wohnung.
Im Treppenhaus war es kalt. Er schaltete das elektrische Licht ein. Dann drehte er den kleinen Griff der Klingel und ließ sie schrillen. »Ich bin es«, sagte er.
Die Nachbarin öffnete. »Kommen Sie herein.«
Er kannte die Wohnung bereits von mehreren Besuchen. Überall standen Figuren aus Porzellan herum, eine Büste von Beethoven, kleine Hunde, Gänse, der Kaiser, eine Schäferin. Nur der lackierte Tisch im Wohnzimmer war frei davon und die Konsole mit Spiegel, deren Seitenflügel aus geschliffenem Glas im Licht der Stehlampe glitzerten. Es roch nach Kohlsuppe und Urin.
»Frau Bodewell, was machen Sie für Sachen?« Matheus trat auf die Alte zu, die sich hinterm Sofa verkrochen hatte.
»Französische Soldaten«, erwiderte sie und riss die Augen auf. »Die wollen uns erschießen.«
Also ging es wieder um den Deutsch-Französischen Krieg. Sie war 1870 dabei gewesen, war dem Heer mit der Verwundetenpflege nach Frankreich gefolgt und hatte dafür sogar das preußische Verdienstkreuz für Frauen erhalten – aber was nützte ein schwarz emailliertes Kreuz am weißen Band, wenn man die Schreie der Sterbenden nicht vergessen konnte.
»Wir haben doch gewonnen in Sedan«, sagte er.
»Sie rächen sich. Mein Walter hat so viele von ihnen auf dem Gewissen. Sie wollen es uns heimzahlen.« Die Alte machte schauerliche Laute mit hohem Stimmchen, und sie begann, am ganzen Leib zu zittern.
»Im Ernst?« Er kroch ebenfalls hinter das Sofa, woraufhin ihm die Nachbarin einen verwirrten Blick zuwarf. Aber darum kümmerte er sich nicht, er kauerte sich nieder, spähte über die Sofakante und flüsterte: »Ja, da kommen sie, verstecken Sie sich, rasch!«
Behände ging die Alte in die Knie und duckte sich hinter die Sofalehne.
Matheus meldete: »Sie sehen uns nicht! Sie marschieren vorüber.« Er wartete, während neben ihm die Alte wimmerte. »Ja«, sagte er, »sie gehen vorbei. Jetzt sind sie verschwunden.« Er atmete laut hörbar auf.
Mutter Bodewell erhob sich und sah sich um. Ungestüm fiel sie ihm um den Hals. »Danke, Sie haben uns gerettet, Pastor Singvogel!« Sie juchzte laut. Speicheltropfen benetzten sein Ohr.
Er klopfte ihr auf den Rücken.
Als er in seine Wohnung zurückkehrte, räumte Cäcilie bereits den Tisch ab. Sie tat es mit fahrigen, zornigen Bewegungen.
»Ich war noch nicht fertig mit dem Essen«, sagte er.
»Wir schon.«
»Cäcilie, wie lange war ich fort, fünf Minuten? Mach deswegen nicht einen solchen Aufstand, hörst du?«
Sie räumte weiter den Tisch leer. »Das war unser Familienabendbrot. Du hast eine Frau und einen Sohn, auch wenn du das dauernd vergisst.«
3
D ie vier Seelöwen schwammen zum Beckenrand, hoben die Köpfe aus dem Wasser und sahen ihrem Meister aus großen, dunklen Kinderaugen hinterher. Ihre Schnurrhaare tropften. Die glatten Leiber glänzten wie Onyx.
»Kannst du kurz auf meine Jungs aufpassen, Nele?«, fragte der Seelöwendresseur.
»Aber beeile dich, ich bin gleich dran! Hören sie denn überhaupt auf mich?«
Franz’ Schnauzbart zog sich in die Breite. »Du musst sie nicht durch den Reifen springen lassen. Hab einfach ein Auge auf sie, ja?«
Dumm wäre es, dachte Nele, wenn sie die Glocke läuten. Das würde im großen Saal zu hören sein. Neben dem Becken lag alles für den Auftritt bereit: der Springreifen, kleine Bälle, eine Puppe. Neu war die Glocke, die am hölzernen Pfosten hing, erst kürzlich hatten die Seelöwen gelernt, sich auf Kommando aus dem Wasser zu recken und sie zu läuten. Seitdem gab es noch mehr Gelächter im Publikum, wenn sie ihren Auftritt hatten.
Nele streichelte die nassen Köpfe. »Er ist gleich wieder da. Ihr habt Hunger, nicht wahr?«
Einer der Seelöwen tauchte ab, die anderen drei drängelten sich unter ihre Hand. Schnurrhaare kitzelten Neles Finger.
»Bestimmt macht ihr es gut heute Abend. Wisst ihr was? Ich trete auch auf. Nicht mehr mit den Kaninchen, sondern allein, und ich tanze! Unglaublich, oder?«
Die Köpfe der Seelöwen ruckten hoch.
»Bei Nele seid ihr brav, das wusste ich.« Der Dresseur kehrte zurück.
»Sie sind klug, nicht wahr?«, fragte sie. »So klug wie Hunde?«
»Schlauer! In der Freiheit tricksen sie sogar die Möwen aus. Wenn sie eine sehen, tauchen sie tief ins
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