Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
gefiel ihm ihre gradlinige Art. Er hatte anscheinend beschlossen, sich nach seinen langen Reden von vorhin nun kurz zu fassen. »Ich will, dass du meine neue Schülerin wirst«, eröffnete er Auril und beugte sich vor. »Du bist jung und stark und zornig. Genau das brauche ich. Schließ dich mir an und werde mächtiger, als du es dir jemals erträumt haben könntest.«
Für einen Augenblick stand Auril wie vom Donner gerührt da. Hatte sie richtig verstanden? Der Herr der Tiefe bot ihr einen Platz an seiner Seite an? Ein irres Lachen drohte in ihrer Kehle aufzusteigen, und sie zwang sich, es hinunterzuschlucken. Ihre Miene verhärtete sich. Niemals, du Scheusal, dachte sie. Lieber lasse ich zu, dass wir alle sterben.
Doch bevor sie den Gedanken laut aussprechen konnte, zerschnitt eine andere Stimme mit grausamer Schärfe die Stille in der Kammer. »Was höre ich da, Ghorca’than? Du bist auf der Suche nach einem neuen Schüler? Bin ich dir nicht mehr gut genug?«
»Calvas! Ich habe schon auf dich gewartet«, rief der Titan, ohne auf die Frage einzugehen, als der Hexenmeister langsam in den Raum schritt. »Hast du die Aufgabe, die ich dir übertragen habe, zuletzt doch bewältigt? Oder fliehst du einmal mehr in meinen Schoß?«
»Nein, mein Gebieter, ich fliehe nicht«, presste der Hexer mit mühsam unterdrückter Wut hervor. »Ich bin gekommen, um dir deinen Preis zu bringen.« Und damit machte er eine Geste mit der rechten Hand, und ein schlaffer Körper wurde aus dem Dunkel des Ganges in den Raum geschleudert.
»Tarean!«, schrie Auril voller Entsetzen, als sie ihn erkannte. »Nein!« Sie stürzte auf die leblose Gestalt des Jungen zu und brach neben ihr zusammen. »Alles, nur das nicht!«
Calvas stieß ein gehässiges Lachen aus, während er sich gemächlich näherte. »Oh doch, meine Liebe. Genau das. Endlich ist es vollbracht. Endlich habe ich meine Rache für die Schmach bekommen, die mir dieser erbärmliche Niemand angetan hat. Tarean ist tot! Von meiner Hand niedergestreckt! Und nichts auf der Welt kann ihn jemals wieder zurückbringen!«
In diesem Augenblick sprang plötzlich eine blutverschmierte, haarige Gestalt auf den Hexer zu. »Mörder!«, fauchte Haffta, und die Wut verlieh ihrem verletzten Körper noch einmal Kraft. »Dafür sollst du bezahlen!«
Calvas riss die Arme hoch, um die heranstürmende Wolflingfrau abzuwehren, doch eine laute Stimme in ihrem Rücken ließ beide innehalten. »Halt! Es ist vorbei!«
Als Auril die Worte vernahm, hob sie den Kopf. »Tarean?!«
Der Hexer wirbelte herum, und alle Farbe wich aus seinem grauen Antlitz. Von einem Augenblick zum anderen war die angreifende Grawlfrau vergessen. »Was?«, keuchte er. »Wie kann das sein? Das ist unmöglich! Du bist tot!« Er deutete auf den Leichnam und schrie: »Tot!«
»Keineswegs«, erwiderte Tarean mit düsterer Miene, während er mit Esdurials Schwesterklinge in der Rechten in den Raum trat. »Ihr habt nicht mich getötet, sondern meinen Zwilling, Calvas. Und dafür werdet Ihr bezahlen. Aber nicht durch meine Hand. Und nicht durch deine, Haffta.« Er warf der zum Sprung bereiten Gefährtin einen eindringlichen Blick zu. »Vertrau mir«, sagte er leise zu ihr. »Der Tod wäre eine zu geringe Strafe für ihn.« Dann hob er die Stimme wieder und rief: »Nein, Calvas, sie werden über Euch und Euren Herrn richten!« Er machte einen Schritt zur Seite, und es zeigte sich, dass er nicht alleine zurückgekehrt war. Ein riesiger Kristalldrache betrat den Raum. Ihm folgten ein zweiter und ein dritter. Im Nu waren es fünf, dann zehn, und ihre Zahl schien kein Ende nehmen zu wollen.
Auril gingen vor Staunen die Augen über, als sie zusah, wie die gläsernen Giganten hereinströmten. Noch nie hatte sie auch nur einen Kristalldrachen gesehen, und nun kamen gut zwei Dutzend von ihnen mit einer Eleganz, die man ihren gewaltigen Körpern niemals zugetraut hätte, in den Raum geschritten. Ihre Freude und Bewunderung wären noch größer gewesen, wenn nicht …
Oh, Tarean, wieso musste das geschehen? Wieso nur wurdest du mir entrissen, kaum dass wir zusammengefunden hatten? Sie dachte an das Wasser des Sehens und wie trügerisch seine Visionen gewesen waren. Es hatte ihr den Tod von Bromm, Haffta und ihr selbst vorgegaukelt – oder zumindest hatte sie das aus den verworrenen Bildern herausgelesen. Doch am Ende hatte ihre Reise Fenrir und Tarean das Leben gekostet. Stumm kniete sie neben der Leiche das Jungen, hielt seine kalte Hand,
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