Tarean 03 - Ritter des ersten Lichts
schimmernder Pflanzensaft, der durch ein fein verzweigtes Aderngeflecht strömte, ließ sie in allen Farben des Regenbogens aufleuchten. In der Mitte des Raumes, entlang des unsichtbaren Pfades, dem Mondentau folgte, erreichten die Gewächse beinahe Mannshöhe. Entlang der Wände jedoch, an denen sich dicke Wurzelstränge beinahe säulenartig zur Decke erhoben, standen noch weitaus größere Exemplare, hünenhafte, stumme Wächter, die Tarean das Gefühl gaben, als habe er sich – gleich einem Irrlicht – in einen daumengroßen Winzling verwandelt.
Ein schwaches Wispern erfüllte die Luft. Hätte Tarean draußen im Wald gestanden, hätte er das Geräusch dem Wind in den Kronen der Bäume zugeschrieben. Doch in dem Raum regte sich kein Lüftchen, und auch die Blätter der Blumen, die in der anderen Kammer für dieses merkwürdig klirrende Schwingen gesorgt hatten, bewegten sich nicht. Das Wispern schien keinen erkennbaren Ursprung zu haben. Leicht wie ein Gedanke geisterte es von Wand zu Wand. Mal war es zur Linken lauter, mal zur Rechten. Dann wiederum schien es direkt von oben aus dem hellen Dunst zu dringen, der die Decke der Kammer den Blicken des Jungen entzog.
»Wo sind wir hier?«, wagte Tarean zu fragen.
Mondentau schritt auf eine der Blumen zu. Als sie diese beinahe erreicht hatte, kam Leben in das leuchtende Gewächs, und es bog, als sei es von einem Verstand beseelt, den Stängel herab, um der Irrlichtfrau die breite Blüte als Sitzgelegenheit darzubieten. Ohne zu zögern wandte sich Mondentau um und ließ sich anmutig zwischen den breiten Blütenblättern nieder. »Im Herzen des Cerashmon«, sagte sie.
Tarean runzelte die Stirn. »Im Herzen des … was meint Ihr damit?«
Mondentau lächelte ihr mildes Lächeln und deutete mit einer schlanken Hand auf eine Stelle neben Tarean. »Setz dich erst einmal, Tarean. Und lege Moosbeere dort nieder.«
Bevor der Junge auch nur nachhaken konnte, tippte ihm etwas zaghaft gegen den rechten Oberschenkel, und er sah eine weitere Blume mit langen, ovalen Blättern, die sich an seiner Seite herabgebeugt hatte. Er warf seiner Gastgeberin noch einen fragenden Blick zu, und als diese eine aufmunternde Geste machte, bettete er das Irrlicht in seinen Armen in die erwartungsvoll geöffnete Blüte. Wie Finger einer riesigen Hand schlossen sich die durchscheinenden Blätter um Moosbeeres leblosen Körper und schoben ihn geschickt in ihre Mitte, sodass Tareans Gefährtin am Ende zusammengerollt wie ein Kind im Mutterleib im Kelch der fürsorglichen Pflanze ruhte.
Eine Bewegung zu seiner Linken veranlasste Tarean, sich umzuwenden. Eine weitere, etwas kleinere Blume hatte ihren Kelch gesenkt und so gekippt, dass er den Eindruck eines bequemen Ohrensessels erweckte. Unsicher starrte der Junge das schimmernde, fleischige Blattwerk an. Warum kamen ihm nur gerade jetzt die Gerüchte über jene grausigen Pflanzen in den Tiefen des Cerashmon in den Sinn, die einen Mann als Ganzes zu verschlingen vermochten, um sich an seinem Blut zu laben?
»Habe keine Angst«, vernahm er Mondentaus Stimme in seinem Rücken. Sein Zögern war offenbar aufgefallen. »Hier gibt es niemanden, der dir etwas Böses will. Du bist unser geschätzter Gast. Also lege deine Waffen ab und habe ein wenig Vertrauen auch in Leben, das dir fremd erscheinen mag.«
Die leuchtende Blume schien die Meinung der Irrlichtfrau zu teilen, denn sie schwankte leicht auf ihrem Stängel hin und her.
Tarean entließ geräuschvoll die Luft, die er unwillkürlich angehalten hatte, aus den Lungen. Er kam sich wie ein Dummkopf vor. Da stand er, im innersten Heiligtum der Irrlichter, und machte sich Sorgen darüber, ob ein Gewächs, das ihm kaum bis zur Brust reichte, den Wunsch hegte, sich an ihm gütlich zu tun. Er warf Mondentau einen entschuldigenden Blick zu. »Ja, natürlich.« Rasch entledigte er sich seiner Ausrüstung und auch des Kapuzenmantels und ließ sich dann in dem Blütenkelch nieder. Mit einer fließenden Bewegung passte sich die Pflanze seinem Körper an, dann war sie wieder still. Tarean richtete den Blick auf Mondentau und wartete darauf, dass sie erneut das Wort ergriff.
»Der Cerashmon«, begann die Irrlichtfrau, »ist nicht einfach ein Wald. Er ist eine gewaltige, uralte Wesenheit, eine Schöpfung der Alten Macht, genau wie wir Lichtgeborenen, die ihr jungen Völker als Irrlichter kennt. Tesh Ilmarin ist das strahlende Herz in seinem Leib der ewigen Dämmerung. Der Baum, durch den du es betreten hast, war
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