Tarean 03 - Ritter des ersten Lichts
übergegangen, dieses besondere Schwert zu führen.
Vorsichtig schob er die Tür des Stalles mit dem hohen, schrägen Dach auf, das er damals auf der erfolglosen Flucht vor den Wölfen hinabgekullert war. Im Inneren wäre es um diese Nachtzeit stockfinster gewesen, doch wie er gehofft hatte, wurde der Raum durch das sanftgoldene Licht von Moosbeeres Aura erhellt. Das Irrlicht schwebte unter der Decke und suchte in den Ritzen und Nischen nach winzigen Stallbewohnern, mit denen es sich die Zeit vertreiben konnte, während all seine großen Freunde im Reich der Träume weilten.
Außer dem Irrlicht befanden sich auch die beiden Greifen, Ro’ik und Ialshi, in dem Stall. Während Ialshi sich auf dem strohbedeckten Boden niedergelassen und in einer Geste, die regelrecht unwillig wirkte, den Vogelkopf unter einen der breiten Flügel gesteckt hatte, stand Ro’ik neben seinem Artgenossen und verfolgte Moosbeeres Treiben mit einem Ausdruck, der eigentlich nur Langeweile bedeuten konnte.
Als Tarean eintrat, wandte der Greif ihm den Kopf zu und krächzte leise. »Hallo, Ro’ik«, begrüßte Tarean das Vogelpferd und strich ihm über den Schnabel. »Kannst du auch nicht schlafen?«
Der Greif schlug mit einem Huf auf den Boden und krächzte erneut.
»Tarean. Was machst du denn hier?«, piepste Moosbeere mit gedämpfter Stimme und huschte an seine Seite.
»Mir bereitet dieser Zwischenfall von heute Abend in der Küche Kopfschmerzen«, sagte Tarean.
Das Irrlicht umkreiste ihn und begutachtete seinen Schädel. »Du hast aber auch eine ziemliche Beule davongetragen«, bemerkte es.
Der Junge verdrehte die Augen. »Ach, ich meine doch nicht, dass ich vom Stuhl gefallen bin.«
»Meinst du nicht? Was meinst du dann?«
Er erzählte es Moosbeere. »Was hältst du davon?«, fragte er seine winzige Gefährtin am Ende seiner Ausführungen.
Das Irrlicht zuckte mit den Schultern. »Klingt wie eine Warnung, oder?«
»Findest du?« Tarean ließ sich den Gedanken durch den Kopf gehen. »Du glaubst, die Vision will mich davor bewahren, so wie Wilfert einen schrecklichen Fehler zu begehen, indem ich versuche, etwas Gutes zu tun, vielleicht einen Freund zu retten, dabei in Wirklichkeit aber alles viel schlimmer mache?«
Die Augen seiner Gefährtin wurden groß. »Was du alles aus so ein paar Bildern im Kopf abliest … Ich dachte nur an einen Hinweis auf das Kommen dunkler Zeiten.«
»Hm.« Tarean schürzte nachdenklich die Lippen. Möglicherweise hatte Moosbeere recht, und er versuchte, zu viel Sinn hinter dem Gesehenen zu entdecken. Einer solchen Warnung hätte es allerdings nicht bedurft. Bereits seit dem seltsam drängenden Ruf des Kristalldrachen vor drei Tagen hatte er so ein Gefühl, dass die Rückkehr von Kesrondaia und den Ihren keineswegs die letzte Herausforderung gewesen war, der er sich würde stellen müssen.
6
DIE ORDENSBURG
Jahrhundertelang hatte die gewaltige Bastion des Ordens der Kristalldrachen den nördlichen Teil von Agialon überragt. Die Burg mochte es nicht mit der beinahe verschwenderischen Pracht des Tempels der Dreigötter oder des Palastes des Althans von Breganorien aufnehmen können. Sie mochte auch nicht so weitläufig sein wie das Gelände der Akademie des Wissens mit seinem angegliederten Spital. Allerdings war sie zweifellos das eindrucksvollste Gemäuer der Stadt – und das älteste. Die mächtige Feste mit ihren massiven Mauern, den hoch aufragenden Wachtürmen, den Gärten, Ställen, Wirtschaftsgebäuden und dem imposanten Bergfried hatte bereits am Ufer des Riva gestanden, als Agialon noch der Sitz eines unbedeutenden Stammesfürsten, eines Herrschers über eine Handvoll grüner Wiesen, gewesen war, zweihundert Jahre vor dem Aufstieg des Marktfleckens zum strahlenden Herzen des Agialonischen Reiches. Den Zeitpunkt ihrer Erbauung umrankten Legenden. Ihre fast vollständige Zerstörung war hingegen erst sechzehn Jahre her.
Die Wolflinge hatten die Burg – das Zeichen des Widerstands gegen Calvas’ Herrschaft – nach der Eroberung von Agialon mit beinahe derselben Entschlossenheit geschleift, mit der sie die Ritter, Scholaren und Bediensteten des Kristalldrachenordens gejagt und getötet hatten. Die Ordensburg hatte nicht ganz das Schicksal von At Arthanoc geteilt, das mithilfe der Steinernen und der Alten Macht buchstäblich in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. Doch auch von der einstmals strahlenden Feste, die sich auf einem Hügel oberhalb des Riva erhoben hatte, war kaum
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